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Wander-Tipp

Am Ender der Welt: Die Greina-Hochebene

• 19. Oktober 2021
6 Min. Lesezeit

Die Greina-Hochebene verbindet die Kantone Tessin und Graubünden. Weder Strassen noch Bahnen führen in das baumlose Hochtal. Wanderer finden Einsamkeit, Ruhe und eine seltene Ursprünglichkeit.

Uta de Monte für das Bergweltenmagazin April 2019

 

Schritt für Schritt taucht man ein in die magische Welt der Greina. Die Hochebene auf rund 2.200 Metern ist ein Scheidepunkt: Sie umfasst die Kantone Graubünden und Tessin, markiert die Grenze zwischen Alpennord- und Alpensüdseite und ist gleichzeitig Wetterscheide. Nur in einem, da scheiden sich die Geister nicht: Die Hochgebirgslandschaft Greina, die nur zu Fuß und nach einer mehrstündigen Wanderung erreichbar ist, strahlt eine nahezu magische Energie aus, die Wanderer vom ersten Augenblick an in ihren Bann zieht.

Die Berge liegen noch ein bisschen im Nebel.
Foto: Sebastian Doerk
Die Val Lumnezia ist der vielleicht schönste Ausgangspunkt, um die Greina-Hochebene zu erreichen.
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Schon die Anfahrt durch die Val Lumnezia nach Vrin, dem Startpunkt unserer zweitägigen Wanderung, ist ein Erlebnis. Denn Vrin ist ein wunderschönes, geschichtsträchtiges 250-Seelen-Dörfchen im „Tal des Lichts“. 1998 wurde die kleine Ortschaft vom Schweizer Heimatschutz mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet für die gelungene Integration moderner Neu- und Erweiterungsbauten in das traditionelle Dorfbild.

2010 folgte die Auszeichnung mit dem europäischen Dorferneuerungspreis für besondere Leistungen im Bereich der nachhaltigen Entwicklung. In Vrin wechseln sich Strickhäuser und Rundholzställe mit üppigen Bauerngärten ab. Dazwischen schillern die neueren Bauten, die der einheimische Architekt Gion A. Caminada errichtet hat.

Eine schöne Terrasse am Berg lädt zum verschnaufen ein.
Foto: Sebastian Doerk
Auf der Terrasse des Jurtencafés bei Puzzatsch wird Alp-Ziegenkäse und Trockenfleisch serviert.

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Kraftorte und Steinplätze

Mit einem Wanderbus gelangt man vom Dorf bis zur Endstation Puzzatsch. Dort, wo die engen Serpentinen in die Weite der Wildnis übergehen, steht das „Café am Ende der Welt“ in Greina.

Das Jurtencafé wurde 2014 eröffnet und zeigt, welche natürliche Vielfalt die Region zu bieten hat: Alp-Ziegenkäse und Trockenfleisch aus heimischer Produk­tion, Sirups aus Wildpflanzen und andere Köstlichkeiten, die nach überlieferten Traditionen zubereitet werden. An den Geheimnissen ihres Familienrezeptbuchs lässt Pirmina Caminada, die das liebevoll dekorierte Café zusammen mit einer Kollegin führt, ihre Gäste gerne teilhaben.

Zudem ist die 50-jährige Wildhüterin eine Expertin für Kräuter- und Heilpflanzen der Val Lumnezia. „Die Natur gibt uns alles, was wir brauchen. Sie nährt unseren Körper, unseren Geist und unsere Seele.“

Während wir bei der kalten Platte sitzen, erzählt Pirmina noch mehr über die Tiere und die Natur: „Sie ernähren sich von blühenden Wiesen und wertvollen Kräutern – mit jedem Stück Käse dürfen wir davon kosten und nehmen die Energie der Sonne und die Kraft der Natur direkt auf.“

Pirmina bietet allerdings auch reichlich an Seelennahrung: in Form von Wanderungen zu den ausgewiesenen Kraftorten der Val Lumnezia und der Greina. Sie führt Besucher zu kleinen Kirchen und Kapellen, von denen es hier zahlreiche gibt, zu mythologischen Steinplätzen oder lichtdurchfluteten Orten, um neue Kraft zu sammeln.

Toni, der Wirt der Terrihütte.
Foto: Sebastian Doerk
Seit über zwanzig Jahren bewartet Toni Trummer-Tomaschett die Terrihütte. Jetzt möchte er sie noch komfortabler machen.

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Wer in den Genuss kommt, von ihr auf einer solchen Tour begleitet zu werden, betrachtet die Landschaft bald aus einem neuen Blickwinkel. Auf der Rundwanderung erlebt man intensiv, wovon sie gesprochen hat, wenn man wenige Meter nach dem Diesrut-Pass (2.428 m) die Weite der Greina-Hochebene genießen darf, die einem dort zu Füssen liegt.

Weit oben schiebt ein heftiger Wind die Wolken über den Himmel, Krähen ziehen lautlos ihre Kreise. Ganz in der Nähe rauscht ein Bergbach den Hang hinab, verläuft sprudelnd in die Tiefe, um sich den Wasserläufen des Rein da Sumvitg anzuschließen, die in unzähligen schmalen Schlangenlinien das Bild der Ebene prägen. Die schützende und gleichzeitig so imposante Bergwelt bietet einen Raum der Stille. Keine Straße, keine Bergbahnen gibt es hier – nur Wanderwege führen durch die einsame Gebirgslandschaft, die vom Rest der Welt abgeschirmt ist.

Nach dem Aufstieg zum Pass weitet sich der Blick, und die wilde Ursprünglichkeit der Hochebene wird spürbar. Rechts erstrahlt der Piz Ner (2.690m), dessen Schiefergestein in der Sonne glitzert. Gleich daneben ragt der Piz Tgietschen (2.857 m) in die Höhe. Sein eisenerzhaltiges Gestein verleiht ihm einen feinen rötlichen Schimmer mit eigenwilliger Anmutung.

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Wenige hundert Meter Luftlinie westwärts sind die sommerlichen Reste des Greina-Gletschers zu sehen. „Die Greina ist ein Sammelsurium an Gesteinen“, erklärt Hüttenwart Toni Trummer-Tomaschett, 58, später am Abend in der Terrihütte.

Drei Wanderer vor wunderschönem Bergpanorama.
Foto: Sebastian Doerk
Die Terrihütte ist fast erreicht. Unter den mächtigen Gipfeln wirkt sie aber trotz ihrer 110 Schlafplätze winzig.

Der Bergführer zählt Granit, Gneis und Schiefer auf. Außerdem kommen hier Zellenkalk und Dolomitgestein vor. Sie prägen das breit gewaschene Flussbett des Rein da Sumvitg. In den sumpfigen Gebieten und rund um die kleinen Tümpel und Teiche, welche auf der Hochebene immer wieder anzutreffen sind, spielt der Wind mit dem buschigen Wollgras. Leuchtend grüne Moose und Farne überziehen die rauen Felswände mit Farbe.

Wegen der Vielfalt der Lebensräume steht die Greina seit 1996 im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung. Lange Zeit galt sie als Geheimtipp unter Naturliebhabern. Dass sie heute vielen Wanderern bekannt ist, liegt daran, dass das Naturjuwel einer öffentlich heiß diskutierten Zerstörung entrann: Für 1991 war der Baustart eines Stausees mit Wasserkraftwerk geplant. Naturschützer wendeten die Überflutung ab, der Name Greina steht seither für den Erhalt einer Urlandschaft.

Die Steinmauer der Terrihütte.
Foto: Sebastian Doerk
Bei der Erweiterung der Terrihütte wurden vorhandene Steine genutzt. Der Plan kam vom Vriner Architekten Gion A. Caminada.

Brot und Käse

Die auf 2.179 Meter Höhe gelegene Terrihütte bietet über 110 Gästen Platz, und doch bleibt auch hier die Atmosphäre mit einem Hauch Einsamkeit und Mystik verbunden. Einer Festung gleich thront die in Steinmauern gefasste SAC-Hütte an einem kleinen Hang, der von der Gipfelwelt umgeben ist. Seit mehr als 23 Jahren bewirtet Toni Trummer-Tomaschett die Hütte.

Ans Aufhören denkt er nicht – im Gegenteil: Nach dem letzten Eine-Million-Franken-Umbau 2008 in Zusammenarbeit mit dem einheimischen Architekten Gion A. Caminada hat er bereits neue Ziele. „Die Hütte soll noch komfortabler werden“, plant der Bergführer. Er hat veranlasst, dass der Zustieg zur Hütte in seinem Verlauf leicht verändert und dadurch auch bei schlechter Witterung besser begehbar ist. 2018 wurde dabei auch eine neue Hängebrücke angebracht. In der Hütte selbst will er neben den klassischen Matratzenlagern vermehrt kleinere Zimmer mit zwei bis fünf Betten anbieten.

Am folgenden Morgen verwöhnt er seine Hüttengäste mit selbst gebackenem Brot und Alpkäse. Er packt einige dicke Scheiben davon ins Lunchpaket, als sich die Nebel langsam lichten und die ersten Sonnenstrahlen durchkommen.

Nun trennen sich die Wege der Hüttengäste wieder, jeder läuft in seine eigene Richtung. Viele Jahrhunderte lang führte eine Handelsroute nach Italien durch die Greina. Bis heute ist sie deshalb jenseits von Scheidepunkten auch ein Ort, der Verbindungen schafft: Nach Norden, durch das Val Sumvitg, gelangt man innert fünf Stunden nach Surrein und weiter nach Disentis/Mustér, Richtung Osten läuft man innert drei Stunden zurück nach Vrin.

Wir nehmen Kurs auf Südwesten und marschieren zwischen Piz Greina (3.123 m) und Muot la Greina (2.398 m) bergauf. Nach einer halben Stunde treten wir endlich wieder in die Weite der Greina-Hochebene ein und setzen den Weg dem Flusslauf entlang fort. Kurz vor dem Greinapass (Passo della Greina) ist ein rundes Labyrinth aus fußballgroßen Steinen gelegt, welches einen Radius von mehreren Metern einnimmt. Dieser Ort lädt ein zum Innehalten.

Beispielhafter Ortsbildschutz: Im Jahr 1998 wurde das Dorf Vrin (im Bild die Pfarrkirche) mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet.

Baden und lachen

Ohnehin ist der Greinapass diesmal der Umkehrpunkt und ein friedlicher Platz zum Ausruhen und Auftanken. Er markiert eine Grenze: Bildet er doch das Tor ins Tessin und in Richtung Italien. Auf 2.354 Meter Höhe weht der Wind ganz sanft durch das Hochtal. Tonis Käsebrote schmecken in der angenehmen Wärme des Sommertages einfach fantastisch. Sie sind auch eine perfekte Vorbereitung für den letzten Teil des Rundwegs, der uns zurück zum Diesrut-Pass und weiter nach Vrin führt.

Wenig später ein kurzer Schrei, ein Platsch und ein weithin hörbares Lachen. Luigi, mein Begleiter auf dieser Wanderung, genießt die große Freiheit der Natur auf seine Weise: lauthals und bei einem Vollbad im geschätzten fünf Grad kalten Wasser des Rein da Sumvitg.

Es schüttelt mich vor Bewunderung, denn mir friert beim kurzen Dippen schon fast der große Zeh ein. Aber zweifelsohne ist das ein berauschendes Erlebnis für Körper, Geist und Seele – genauso wie die einsame Wanderung durch die abgeschiedene Hochgebirgslandschaft Greina, die nun hinter uns liegt.

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