Der Untergang von Schillingsdorf
Schillingsdorf im Berner Oberland soll einst dort gestanden haben, wo sich heute das Dorf Burglauenen (Gemeinde Grindelwald) befindet. Sein Verschwinden ist in einer Sage festgehalten – die nicht nur von einer Naturkatastrophe, sondern auch von der (belohnten) Nächstenliebe eines alten Ehepaars handelt.
- Gebirge: Berner Alpen
- Ort: Burglauenen, Berner Oberland
Da, wo jetzt im Kanton Bern Burglauenen steht, befand sich einst ein schönes Dorf, das Schillingsdorf hieß. Eines Abends, als die Leute von Schillingsdorf zu Hause saßen, fing es mit einem Male von allen Seiten zu donnern an. Und als die Schillingsdorfer noch darüber grübelten, ob es das Gewitter bis zu ihnen schaffen würde, fing es auf einmal zu krachen an, als ob eine Axt die Erde zweiteilen wollte. Der Himmel war voller Blitze und ein ungeheurer Platzregen kam vom Himmel. Die Lütschine brauste bald als ein gewaltiger, alles mit sich reißender Wildstrom daher und fuhr haltlos über Weg und Steg.
Da eilte ein kleines, uraltes Männchen das Tal hinunter und ins Dorf. Es war triefendnass, man hätte es auswinden können wie einen nassen Aufwaschlumpen. Es schlotterte vor Kälte, und aus dem langen, grauen Bart floss der Regen wie aus einer Dachtraufe. Trotzdem guckte das Männchen mit zwei freundlichen, blauen Schalkenaugen unter seinem schwarzen Federhütlein hervor. Beim ersten Haus machte es sich unters Schirmdach, schüttelte das Wasser aus Rock und Haar und schlug säuberlich seine Schuhe an der Türschwelle ab. Dann klopfte es mit seinem Stecken vorsichtig an die Türe.
Ein Weib schaute zum Fenster heraus und fragte barsch, was er in Schillingsdorf zu tun hätte. Da sagte das Männchen, es habe sich im bösen Wetter verlaufen und möchte um Herberge ersuchen. Doch das Weib fuhr ihn an, er solle machen, dass er weiterkomme. Er würde ihr mit seinen Stiefeln die Stube verschmutzen und sie hätten keinen Platz für Bettelleute.
Das alte Männchen wunderte sich, sagte aber kein Wort und ging sogleich weiter zum nächsten Haus. Aber dort gab man ihm den gleichen unbarmherzigen Bescheid. Und nicht freundlicher erging's ihm beim dritten Haus und beim vierten und so fort, bis es am Ende des Dorfes angekommen war. Überall hatte man es hart abgewiesen. Jetzt kehrte das Männchen wieder in die Mitte des Dorfes zurück, zu einem unansehnlichen Häuschen, wo es zuvor gar nicht angeklopft hatte, weil es dachte, es wohnten darin ganz arme Leute, die ihm nicht so gute Herberge bereiten könnten wie die andern Leute in den stattlichen Holzhäusern. Nun aber klopfte es an.
Ein altes Mütterchen trippelte heraus, hieß ihn freundlich eintreten und führte ihn in die niedrige Stube. Am Stubenofen saß der alte Mann der gütigen Frau, und der hieß das kleine Männchen ebenfalls herzlich willkommen. Sie gaben ihm trockenes Gewand, und sein nasses hingen sie zum Trocknen an den Ofen. Danach bewirteten sie ihn mit Milch und Käse, und die Frau buk ihm gar einen Kirchweihkuchen. Auch ein warmes Bett wurde ihm bereitet. Das alles rührte das alte Männchen sehr und es blieb über Nacht bei den guten Leuten.
Als diese am nächsten Morgen aufwachten, war ihr seltsamer kleiner Gast schon weg. Die ganze Nacht hatte es geregnet – jetzt standen alle Schillingsdorfer in den Türen und sahen nach, wie es draußen wohl stehe. Da gab es auf einmal ein furchtbares Krachen und Donnern, und es war, als fange die ganze Welt zu schaukeln an. Die Schillingsdorfer wurden geisterbleich und sahen, wie sich oben die Felsenwand ablöste und erst langsam, dann immer rascher ins Tal und auf ihr Dorf zu rutschte. Mitten auf dem Geröll der nun pfeilschnell heranrückenden Felslawine erblickten sie ein altes Männlein, das auf dem größten Felsblock hockte, den es mit seinem kleinen Stock wie mit einem Ruder talwärts lenkte.
Einen Meter vor dem Häuschen der armen Leute, die gestern so gastfreundlich waren, steckte das Männlein den Stock vor den Riesenblock, und sogleich blieb er wie angewachsen stehen. Hinter ihm jedoch teilte sich die schreckliche Lawine und floss in zwei Strömen rechts und links über das ganze Dorf. Steine und Schutt begruben für immer Häuser, Ställe, Menschen und Vieh. Einzig die Hütte in der Mitte des Dorfes und ihre gutherzigen Bewohner blieben verschont. Seither ist Schillingsdorf vergessen, und die Gegend ringsum noch heute mit Schutt und Steinen bedeckt.
(Gekürzte Fassung. Quellen: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915; www.sagen.at)
Die Sage heute: Im Berner Oberland gibt es tatsächlich einen Gebirgsfluss, der sich – ähnlich wie in der Sage beschrieben – teilt. Die Lütschine fließt in Gündlischwand bei Burglauenen wieder zusammen und dann weiter durch das Lütschinental bis in den Brienzersee. In Burglauenen (wo einst Schillingsdorf gestanden haben soll) ist indes die Felsabbruchstelle, auf welche sich die Sage bezieht, heute noch erkennbar.
Tourentipp
Auf dieser Tour, die durch Burglauenen führt, kann man gut den Zusammenfluss von Schwarzer und Weisser Lütschine beobachten.
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