Winter im Raurisertal
Foto: Julian Bückers
Im Raurisertal wurde früher nach wertvollen Erzen geschürft, heute sind Pulverhänge und gefrorene Wasserfälle die wahren Schätze. Eine Erkundungstour mit Ski, Schneeschuhen und Eispickel.
Simon Schöpf für das Bergweltenmagazin Juni 2020
Ein tief verschneiter Urwald, endlose Weite, nur spärliche Zeichen von Zivilisation: Man könnte sich andere Orte als Wiege des technischen Fortschritts vorstellen. Doch hier, im abgelegenen Talschluss des Pinzgauer Raurisertals auf über 1.600 Meter Höhe ging im ehemaligen Großreich der k.u.k. Monarchie das erste elektrische Licht an. „Die Beamten in Wien saßen noch über ihre Petroleumlampen gebeugt, da haben die Knappen bei uns bereits unter einer Glühbirne gespeist“, erklärt Nationalpark-Ranger Martin Unterhofer während einer Verschnaufpause bei unserer Schneeschuhtour.
Der glitzernde Grund dafür: Gold. Der Talschluss des Raurisertals mit dem Namen Kolm-Saigurn war einst Zentrum des alpinen Goldbergbaus. So prägend waren die Erze für die Menschen hier, dass gleich die ganze Gebirgsregion nach dem Edelmetall benannt wurde: Wir befinden uns inmitten der Goldberggruppe, die Gipfel ringsum tragen einschlägige Namen wie „Silberpfennig“ oder „Goldzechkopf“.
Der vorindustrielle Goldbergbau pflegte jedoch einen wenig romantischen Umgang mit der Natur. Das Tal wurde großflächig abgeholzt, um Holzkohle für die Hochöfen zu gewinnen. Nur ein kleines Waldstück blieb erhalten, knapp unterhalb der Baumgrenze, durchzogen von Moortümpeln und deshalb unattraktiv für die Holzgewinnung. Ein Glücksfall, denn der Rauriser Urwald wurde dadurch bewahrt, heute ist er Teil der Kernzone des Nationalparks Hohe Tauern und damit gut geschützt. „Seitdem hat man noch viel mehr das Gefühl von Wildnis hier oben“, erklärt Martin Unterhofer. „Alles wirkt so riesig, man ist hier weit weg von der Welt.“
Kreuzzeichen & Himmelsblicke
Bemerkenswert, ist das Raurisertal doch umringt von Tourismushochburgen wie Zell am See, Gastein oder Saalbach. Im 19. Jahrhundert erlosch allerdings der „Bergsegen“ mit seinen Goldfunden, die Minen wurden unrentabel. Das Raurisertal wurde wieder das, was es vorher schon war: ein beschauliches Hochtal inmitten einer grandiosen Gebirgslandschaft.
Wenn man gleich mehrere Parade-Dreitausender vor der Haustür stehen hat, ist eine leichte Skiverrücktheit fast schon Grundvoraussetzung, um hier oben zu überleben. Eine solche wird am Ammererhof ganz oben im Talschluss Kolm-Saigurn seit Generationen gepflegt.
Helmut Tomasek Senior wird von allen nur liebevoll „Kolm-Opa“ genannt. Die 80 hat er mittlerweile überschritten, und dass er das geschafft hat, kann er anscheinend selber kaum glauben. War er doch seinerzeit einer der wildesten Steilwand Skifahrer des Landes: Seine Erzählungen unterbricht er in besonders kritischen Momenten für ein flüchtiges Kreuzzeichen über Stirn und Brust, kombiniert mit einem ehrfürchtigen Blick Richtung Himmel. Beim Blick hinauf sieht man außerdem den Hohen Sonnblick (3.106 m) mit seinem markanten Mittelpfeiler, den allgegenwärtigen Berg vor der Haustüre.
Auch seine Kinder wuchsen hier oben auf 1.600 Metern auf, sein Sohn Helmut Tomasek junior hat die Gastwirtschaft übernommen und das Anwesen modernisiert. Selbstredend, dass auch seine Partnerin schneeverrückt sein muss, und das ist Miriam Popp: Manchmal legt sie ihr Splitboard schon vor dem Frühstück an und spult die 1.700 Höhenmeter auf ihren Hausberg Hocharn in einer Zeit ab, in der andere gerade mal zwei Butterbrote schmieren. Sie als Energiebündel zu bezeichnen, ist immer noch eine Untertreibung. „Aber was soll man machen, wenn man so tolle Berge direkt vor der Haustür hat?“, kommt als Rechtfertigung.
Skitour mit der Spurmaschine
Wer in Kolm-Saigurn nächtigt, ist den ganzen Winter über in einer privilegierten Poleposition für Skitouren. Bis im Frühling die Mautstraße wieder geräumt wird – Hocharn und Hoher Sonnblick sind zwei der großen Salzburger Firnklassiker und ein Magnet für die Massen. Aber im Hochwinter heißt Poleposition nach Neuschneefällen vor allem: Spuren. Und es gibt wenige Leute, die dieser Pflicht mit mehr Wohlwollen begegnen als Reini Auzinger.
Der besonnene Anfangreißiger jobbt schon seit vielen Wintern am Ammererhof, der Deal für sein stets freundliches Service am Abend: Eine Skitour pro Tag muss drin sein. „Irgendwas geht da heroben immer. Statt der Zimmerstunde geh ich halt auf Tour.“
Wenn Reini sagt, er gehe „ganz gern Berg“, dann ist das ein Understatement, denn: Er war schon auf zwei Achttausendern und ist letztes Jahr einmal über den gesamten Alpenbogen gewandert. Von Wien nach Nizza, 80.000 Höhenmeter mit Tourenski. Die Spurmaschine Reini lässt man also gerne vorauslaufen und trottet im eigenen Tempo hinterher, so wie heute auf den Hocharn, mit seinen 3.254 Metern der höchste Gipfel der Goldberggruppe.
Am steilen Gipfelhang melden sich die Oberschenkel, dafür werden wir ganz oben mit einem traumhaften Blick auf den nahen Großglockner belohnt – aber viel Zeit für genussvolle Ausblicke bleibt nicht. Reini und Miri haben bereits abgefellt, Ski und Snowboard angeschnallt und scharren in den Startlöchern.
Das Gold schimmert hier blau
1.700 Höhenmeter Abfahrt, jeder Schwung ein Genuss – und mit dem Tempo, das Reini und Miri vorgegeben haben, bleibt noch der ganze Nachmittag für weitere Entdeckungen. Wir wechseln die Talseite und statten Hermann Meislinger einen Besuch ab, dem Pächter des Naturfreundehauses Sonnblickbasis.
Als er sie übernahm, stand die Hütte in Kolm-Saigurn mehr schlecht als recht da, die Gäste blieben aus – bis im Winter 2007 eine Partie Ungarn bei ihm eincheckte. Mit dabei hatten sie Eispickel und Steigeisen. „Wir haben uns alle gedacht: Was sind das denn für Freaks?“ Die Freaks waren Eiskletterer, es zog sie zu den gefrorenen Wasserfällen hinter dem Haus. Und sie kamen wieder.
Hermann erkannte das Potenzial der vierzehn gefrorenen Wasserfälle in unmittelbarer Hüttenumgebung – und dann ging alles recht schnell. Legenden der Szene wie Beat Kammerlander gaben hier Kurse, Hermann konstruierte einen künstlichen Eiskletterturm aus Holz für Übungszwecke. „Der ist allerdings bald mal umgefallen, genau auf mein Auto.“ Der nächste Turm war ein Metallkonstrukt und hielt länger, mittlerweile stehen sogar zwei neben der Sonnblickbasis.
Ein passenderer Name wäre mittlerweile „Eiskletterbasis“. Die Leute kommen nicht nur aus der Umgebung, sondern auch aus Mexiko, Peru, sogar aus Lesotho. „Auch wenn’s sonst nirgends zum Eisklettern geht, bei uns am Kolm geht’s immer“, erklärt Hermann. Für sie hat das Rauriser Gold eine andere Farbe, es schimmert tiefblau. Wir sind ebenfalls fündig geworden. Anders als früher finden wir unsere Schätze aber nicht in Stollen im Gestein, sondern am Weg über die Berge.
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