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Alpingeschichte

Hüterin der Höchsten

• 13. März 2023
6 Min. Lesezeit

Sie war nie auf einem Berg und ist doch eine Legende der Himalaya- Geschichtsschreibung: die 2018 verstorbene Chronistin Miss Elizabeth Hawley. Ein Gespräch mit ihrer Nachfolgerin Billi Bierling über die Autorität ihrer Vorgängerin, berühmte Bergsteiger und falsche Gipfel.

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Foto: Privatarchiv Billi Bierling
Billi Bierling ist selbst bereits sechsmal auf einem Achttausender gestanden – hier etwa am 8.516 Meter hohen Lhotse
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Text: Andreas Lesti

Die Story ist im Bergwelten Magazin Dezember/Januar 2021/22 erschienen.

Billi Bierling sitzt in ihrem Garten in Garmisch und blickt in die Berge. „Da oben war ich heute schon“, sagt sie und zeigt auf den Wank. „Eine kleine Trainingsrunde“, fügt sie lachend hinzu. Ihre Fitness ist ihr anzusehen, austrainiert und drahtig wirkt die 54-jährige Bergsteigerin, die vor fünf Jahren die Nachfolge von Himalaya-Chronistin Miss Elizabeth Hawley angetreten hat.

Bergwelten: Warum sind Sie denn nicht in Nepal?

Wegen Corona bin ich im Mai nach Hause geflogen. Seitdem bin ich in Garmisch, aber das ist auch schön. Eigentlich wollte ich jetzt am Gasherbrum in Pakistan sein, das muss nun warten. Aber später im Jahr möchte ich wieder in Nepal sein.

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Sie sind dort in große Fußstapfen getreten.

O ja! In die Fußstapfen der Autorität des Himalaya-Bergsteigens, Miss Hawley.

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Elizabeth Hawley kam 1963 von Chicago nach Nepal, damals schrieb sie für die Nachrichtenagentur Reuters über die erste amerikanische Expedition auf den Everest. Und sie befragte die Teilnehmer sehr genau, was dort oben passiert war. Sie blieb in Nepal und wurde zur Institution, zu einer Art „Gipfelbuchhalterin“. Rund 15.000 Interviews führte sie in über fünfzig Jahren, und sie baute mit der Himalayan Database (himalayandatabase.com) eine Datenbank auf, in der mehr als 9.600 Expeditionen und 70.000 Bergsteigerinnen und Bergsteiger verzeichnet sind. Sie umfasst alle bedeutenden Expeditionen auf nepalesische Berge seit 1905, und alle, die sich fürs Höhenbergsteigen interessieren, können kostenlos darauf zugreifen. Heute kümmert sich Billi Bierling mit sechs Kolleginnen und Kollegen um deren Weiterführung.

Wie war Miss Hawley denn so?

Sie war tough, sie war besessen, sie war, was sie war. Sie hat mich fasziniert. Sie war pragmatisch und analytisch und auch schwierig – eine wahnsinnige Autoritätsperson eben. Aber sie war auch lustig, nur musste man sich das erarbeiten.

Auf Bildern wirkte sie immer ein wenig wie Miss Marple – oder wie eine alte Englischlehrerin.

Ja. Viele dachten ja auch, sie sei Britin, aber sie war Amerikanerin. Einmal bin ich mit etwas zerzausten Haaren zu ihr gekommen. Da hat sie mich angesehen und gesagt (Bierling spricht sehr akzentuiert): „You are not going to meet expeditions like this! Fix your hair in the bathroom!“ Da war ich aber auch schon 45 Jahre alt.

Klingt streng.

Ich hatte lange Angst vor ihr. Wenn sie anrief, habe ich alles liegen und stehen lassen. Einmal war ich mit Ueli Steck Pizza essen in Kathmandu, da rief sie an, und ich bin sofort gesprungen. Lange Zeit war mir gar nicht bewusst, wie sehr ich um ihre Gunst gekämpft habe.

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Wie haben Sie sich denn kennengelernt?

Als ich 2001 einen Siebentausender besteigen wollte, lernte ich sie kennen. Im Jahr 2004 schrieb ich ihr einen Brief und fragte, ob sie Hilfe benötige. Ich war über­rascht, als sie mir schrieb: „Ja, du kannst kommen, aber bring ein Clipboard mit.“

Und wie wird diese Arbeit gemacht?

Es gibt in Kathmandu ungefähr fünfzig Agenturen, die Expeditionen organisie­ren. Die rufen wir Anfang der Saison an und fragen, ob sie Expeditionen durchfüh­ren und was sie konkret vorhaben. Ich musste damals schnell lernen, denn Miss Hawley nahm mich nur zu einem ihrer In­terviews mit, dann musste ich das allein stemmen. Es dauerte nicht lange, bis ich die meisten Interviews übernahm. Als sie 2016 während einer Befragung einen Aus­setzer hatte, war ihr klar, dass sie das nicht mehr machen wollte oder konnte: „That’s it. Now it’s your job.“ Da war sie 92. Sie hat mir so viele Türen geöffnet. Ich meine: Nennen Sie irgendeinen bekannten Berg­steiger – ich kenne sie alle und mache die­sen Job wahnsinnig gerne. Es sind so tolle Gespräche, und es ist ein reiches Leben.

Und wie hat Miss Hawley gearbeitet?

Sie hat die Menschen ein bisschen über­fallen – sie ist mit ihrem himmelblauen Käfer in Kathmandu zum Flughafen ge­fahren und hat die Bergsteiger dort ab­gefangen. Oder sie hat sie herbeizitiert. Sobald sie in Kathmandu gelandet sind, hat sie im Hotelzimmer angerufen – dafür war sie bekannt.

Hatte sie eine Vision, einen Plan, die Database aufzubauen?

Nein, das hat sich bei ihr so ergeben, ohne Plan und ohne Leidenschaft. Ich habe sie einmal gefragt, warum sie das so lange gemacht hat. Da hat sie gesagt: „Wenn ich etwas anfange, mache ich es auch fertig.“

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Foto: Parvaneh Kazemi/ Wikipedia
Himalaya-Chronistin: Miss Elizabeth Hawley 2011 in Kathmandu, Nepal

Miss Hawley war selbst nie auf einem hohen Berg. Auch nicht auf einem niedrigen. Warum?

„Auf einen Berg? Um Gottes willen, nein“, hat sie in der ihr eigenen Art im­ mer gesagt. „I’m a city woman.“ Aber das hatte sie auch gar nicht nötig. Sie konnte sich die Routen gut vorstellen und hatte ein wahnsinnig gutes Gespür.

Sie dagegen waren auf sechs Achttausendern. Auch auf dem Everest. Hilft das?

Ja, das hilft schon. Ich erwähne es nur gelegentlich, um zu zeigen, dass ich mich da oben schon ganz gut auskenne.

Wie fand Miss Hawley das denn?

Bevor ich 2009 auf den Everest gestiegen bin, wusste ich nicht, wie ich ihr das bei­ bringen soll. Denn für sie war es wichtig, dass ich in Kathmandu bin und die Ex­peditionen dort interviewe. Als ich ihr mein Vorhaben mitgeteilt habe, warf sie ihre Computertastatur in meine Richtung und hat mich rausgeschmissen.

Und dann?

Ich dachte, sie hätte mich gefeuert, aber dann rief sie an und sagte, ich solle zum nächsten Interview. „Ich bin also nicht gefeuert?“, fragte ich vorsichtig. Und sie sagte: „I would never fire you!“

Als ich Miss Hawley gesagt habe, dass ich den Everest besteige, warf sie die Tastatur in meine Richtung.

Billi Bierling erzählt im Interview, wen sie wo getroffen hat und wer auf welchem Berg war. So fallen die Namen der besten Bergsteiger und Bergsteigerinnen der Welt: Reinhold Messner, Sir Edmund Hillary, Ralf Dujmovits, Gerlinde Kaltenbrunner, Simone Moro, David Göttler, Christian Stangl oder Hans Kammerlander. Wie sie von ihnen spricht, zeigt auch, welche Wertschätzung sie selber in der Szene erfährt.

Was hat sich seit Miss Hawleys Tod verändert?

Die Logistik ist ganz anders – Sauerstoff, Fixseilrouten, Helitransporte. Ich komme gar nicht mehr hinterher, zu registrieren, wer alles auf den Achttausendern war. Manche haben aufgrund der vielen Erleichterungen den Respekt verloren. Als Miss Hawley angefangen hat, waren vier Teams in einer Saison am Everest. Heute sind es 200. In der vergangenen Saison sind 408 Permits vergeben worden – so viele wie noch nie. Wir denken gerade darüber nach, unseren Fragebogen zu verändern. Wir benutzen noch die Formulare, die Miss Hawley entwickelt hat. Aber es hat sich so vieles geändert, dass wir neue Kategorien brauchen – zum Beispiel „aviationassisted“, also mit Flugunterstützung.

Ist nur am Everest so viel los?

Leider nein. Das System Everest wird nun auch auf andere Berge übertragen. Im April hat ein Heli an der Annapurna I Sauerstofflaschen auf 6.800 Meter ge­flogen – was an einem solchen Berg noch nie vorgekommen war. Das ermöglichte den meisten der 67 Leute, auf den Gipfel zu kommen. Und da sind Leute dabei, die die Gefahr an so einem Berg nicht einschätzen können. Das hätte es früher nicht gegeben. Ich war auf sechs Achttausendern, aber auf der Annapurna habe ich nichts zu suchen. Da ist schon die Angst vor einem großen Desaster da.

Haben Sie da nicht den Impuls, denen das auszureden?

Ja. Manchmal kann ich es mir nicht verkneifen zu sagen: Überleg’s dir noch mal.

Warum war dieses Jahr so viel los?

2020 ging wegen Corona nichts. Das haben viele 2021 nachgeholt. Aber dann gab es im Basislager Corona, und die Gipfelquote ist von 70 auf 50 Prozent gesunken. Ein Pilot erzählte, dass er jeden Tag sieben Leute mit Symptomen ausgeflogen hat.

Hat sich dadurch auch Ihre Arbeitsweise verändert?

Nein. Was unsere Arbeit verändert hat, sind die vielen Expeditionen. Da wir es nicht mehr schaffen, alle zu treffen, haben wir einen Online-Fragebogen entwickelt.

Was ist mit den Gipfel-Lügnern?

Wir sind keine zertifizierende Organisati­on, aber wir wollen so korrekt wie möglich sein. Wichtig ist die Frage des Vorsatzes. Vor ein paar Jahren waren alle Bergsteiger unabsichtlich am falschen Manaslu­-Gipfel. Das war ein Versehen, keine Lüge. Ich glaube prinzipiell an das Gute im Menschen, aber manchmal werde ich enttäuscht. Das ging Miss Hawley allerdings auch so.

Buch-Tipp:

Billi Bierling mit Karin Steinbach: Ich hab ein Rad in Kathmandu. Mein Leben mit den Achttausendern. Mit einem Vorwort von Gerlinde Kaltenbrunner, 256 S., ISBN 978-3-7022-4103-2, ca. 28 EUR. Erhältlich z.B. beim Tyrolia Verlag.

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Foto: Tyrolia Verlag
Billi Bierling: Ich hab ein Rad in Kathmandu

Die renommierte Himalaya-Expertin erzählt von der Faszination des Expeditionsbergsteigens im Himalaya und ihrem Einsatz für Menschen in Not.

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