Das Venediger Männlein
Das wohlhabende Venedig dehnte im Mittelalter seine Handelsbeziehungen bis weit in den Norden Europas aus. Auch in die Schweizer Alpen verschlug es so manchen Venediger – und einen armen Glarner Hirten nach Venedig.
- Gebirge: Glarner Alpen
- Ort: Glarus, Kanton Glarus, Venedig
In alten Zeiten kamen oft ganz wunderliche, dunkelhaarige Leute aus fremden Landen auf die Schweizer Alpen gestiegen. Sie suchten im Felsen und in den Wildbächen nach Gold. Man nannte sie die Venediger und sah sie gern, denn sie sorgten für Abwechslung indem sie vom großen Meer und ihrer reichen Stadt erzählten. Nur eines bedrückte die heimischen Hirten: Während sie selbst kein Körnchen Gold fanden, konnten die Venediger ihre Tasche voll Gold heimtragen.
Ein solcher Venediger, ein unscheinbares Männlein, kam jeden Sommer nach Glarus. Er stieg mit den Sennen auf die Hochalpen. Während sie aber das Vieh versorgten, stieg das Venediger Männlein in den Felsen, kroch durch die Bäche und las Steine zusammen, die besonders schön glitzerten. Waren sieben Säcke voll, machte er sich plötzlich davon. Doch während man ihn noch weit fort glaubte, erschien er schon wieder auf der Alp und begann von neuem Steine in seine sieben Säcke zu sammeln.
Als auf der Alp die Schatten der Berge länger wurden und schon hie und da ein rauhes Schneelüftchen pfiff, verabschiedete sich das Venediger Männlein wie alljährlich wieder. Den Hirten sagte er noch: „Ich gehe jetzt wieder nach Venedig. Wenn mich einmal einer von euch dort besucht, so schenke ich ihm einen Sack voll Silber.“
Kaum war das Männlein von der Alp weg, vergaßen die Hirten seine freundliche Einladung. Nur einer, der arm war und einen Sack voll Silber für seine kränkliche Frau und vielen Kinder gut gebrauchen konnte, behielt seine Worte im Gedächtnis. Eines Tages machte er sich unbemerkt auf den Weg, zog über die Schöllenen und über den Gotthard, bis er nach langem Marsch endlich ans Meer kam, aus dem er eine Stadt mit vielen Türmen auftauchen sah. Es war Venedig, von dem ihm das Männlein schon so vieles erzählt hatte.
Doch er wusste weder das Haus noch die Gasse, wo das Venediger Männlein wohnte, ja er kannte nicht einmal seinen Namen. Er dachte schon ans Heimgehen, da klopfte ihm jemand auf die Achsel, und wie er sich umschaute, reichte ihm ein kleiner, vornehmer Herr die Hand und hieß ihn freundlich willkommen. Der arme Hirte machte Augen, als er in dem feingekleideten kleinen Herrn das unscheinbare Venediger Männlein erkannte. Es lud ihn zu sich nach Hause ein und auch dort staunte der arme Hirte nicht schlecht. Es bestand ganz aus Marmor und die Wände glänzten so sehr, dass man sich davor hätte rasieren können.
Dem armen Glarner Hirten wurde alles aufgetischt, was er wünschte. Doch es dauerte nicht lange, bis ihm das Wohlleben nicht mehr recht behagte, obwohl er den ganzen Tag in seinem seidenweichen Bett die Zeit hätte verschlafen können. Seine Gedanken waren immer nur bei Frau und Kindern.
Als der Venediger ihn so niedergeschlagen sah, sagte er freundlich zu ihm: „Mir scheint, du langweilst dich hier in Venedig. Oder hast du etwa gar Heimweh?“ „So ist's“, antwortete der Hirte, „das Heimweh plagt mich, ich weiß mir nicht zu helfen.“
Der Venediger lächelte und führte ihn in ein Gemach, in das er vorher noch nie gekommen war. Dort hing an der Wand ein prächtiger Spiegel. „Da schau nun“, forderte ihn der Venediger auf, „wie's jetzt im Dorfe Glarus steht!“
Und o Wunder! da sah der Glarner Hirte Glarus so deutlich vor sich, als ob das Dorf gleich hinter der Wand stünde. Er sah sein Häuschen und erkannte seine Frau, die gerade ihr Kind wusch und die Augen standen ihr voll Tränen, weil sie an ihren fernen Mann dachte.
Jetzt sagte der Venediger zu ihm: „Geh jetzt wieder heim! Zehrung gebe ich dir in Gold oder Silber. Willst du lieber Gold, so gebe ich dir's selber. Wenn du aber Silber willst, so kannst du's in meiner Schatzkammer holen.“ Drauf sagte der Glarner Hirte: „Ich will nur einen Sack voll Silber, wie Ihr's zu Glarus auf der Alp versprochen habt.“ Und so ging er denn mit Erlaubnis des Venedigers in dessen Schatzkammer und füllte einen Sack mit Silber.
Zum Abschied gab ihm der Venediger noch einen Rat: „Pass auf der Reise ja gut auf den Sack auf! Wenn du in einem Wirtshaus übernachtest, nimm ihn mit dir ins Bett und leg ihn unter den Kopf.“ Der Hirte bedankte sich nochmals für alles und machte sich aus der Meerstadt davon und wanderte immer höher und höher der Heimat zu.
Als er einen ganzen Tag gelaufen war und die Nacht mit einem Male hereinzubrechen drohte, musste er in einem welschen Dörflein übernachten. Der Weg heim war noch unendlich lang. Er suchte eine Herberge, ging zu Bett und legte den Silbersack unter den Kopf.
Wie machte er aber Augen, als er am andern Morgen im eigenen Laubbett in Glarus erwachte, in der Stube die Schwarzwalduhr ticken und vor dem Hause seine Ziegen meckern hörte! Er meinte zuerst, er habe am Ende alles nur geträumt und sei gar nie in Venedig gewesen. Doch da merkte er etwas Hartes unter dem Kopf und fand den mit Silber gefüllten Sack. Seine Frau und seine Kinder eilten herbei und umarmten ihn. Und wie freuten sie sich über sein seltsames Kopfkissen, das einen silbernen Klang gab, wenn man daran klopfte!
Der arme Hirte war jetzt ein reicher Mann. Er baute mit seiner Frau einen stattlichen Hof auf und vermehrte die Zahl seiner Kühe jährlich. Seine Urenkel leben heute noch in Wohlstand und Ansehen in Glarus und man nannte sie fortan nur noch Venediger.
(Gekürzte Fassung. Quellen: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915; www.sagen.at)
Die Sage heute: Venezianisches Spiegelglas ist bis heute berühmt – für dessen Produktion benötigte man in der Lagunenstadt Zusatzstoffe und Mineralien, die venezianische Händler in den Alpen fanden.
Tourentipp
Rund um die in der Sage erwähnte Stadt Glarus lassen sich prächtige Touren unternehmen. Zum Beispiel auf den 2.328 m hohen Vorderen Glärnisch.
Auf den Vorder Glärnisch ab Hinter Saggberg
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