Christoph Strasser: „Im Ziel bin ich ziemlich grantig“
Foto: limeART-Hausdorfer
von Martin Foszczynski
Am 11. Juni nimmt Christoph Strasser zum neunten Mal das Race Across America in Angriff. Das bedeutet: 4.900 km auf dem Rad, von der West- zur Ost-Küste der USA. Wie er sich vor dem Start fühlt, warum er Halluzinationen durch Schlafentzug nicht fürchtet, die „flachen“ Rocky Mountains hingegen schon, und welche Songs er beim Durchqueren von Wüsten und Bergzügen hört, verrät uns der Titelverteidiger des Rennens im Interview.
Fünf Mal konnte Christoph Strasser das legendärste Nonstop-Radrennen der Welt, das von Oceanside in Kalifornien nach Annapolis in Maryland führt, bisher gewinnen. 2014 in der Rekordzeit von 7 Tagen, 15 Stunden und 56 Minuten. Damit gilt er als Maß aller Dinge im Ultracycling – oder „Weitradlfoan“, wie es der sympathische Steirer lieber nennt. Vergangenes Jahr haben wir mit dem Ausnahme-Athleten kurz vor dem Start des Race Across America 2018 – das er auch gewinnen sollte – gesprochen.
Bergwelten: Christoph, mit welchem Gefühl brichst du zum RAAM, deinem absoluten Jahresziel, auf?
Christoph Strasser: Vom Training her ist jetzt eigentlich alles schon erledigt, da heißt es nur noch das Level halten. In den letzten Wochen vor dem Rennen gibt es aber wahnsinnig viel Organisatorisches zu tun: Reisen planen, Autos mieten, Hotels buchen, mit den Sponsoren reden…
Wie sah deine Vorbereitung im Laufe des Jahres aus? Im Winter stehen wohl viele Stunden am Hometrainer auf dem Programm?
Ich sitze im Jahr rund 1.250 Stunden am Rad, das entspricht circa 30.000 bis 35.000 Kilometern. Ein Drittel meines jährlichen Trainings findet auf dem Hometrainer zuhause in meinem Keller statt, wo ich mir einen Video-Beamer installiert habe. Allerdings muss man sich das eher als Mischung aus Training und Büroalltag vorstellen, denn während ich kurble beantworte ich Emails, telefoniere und organisiere meine Vorträge (lacht).
Man kann also wirklich sagen, dass du große Teile deines Lebens auf dem Rad verbringst. Wie kam es eigentlich zu dieser Leidenschaft?
Ich habe bis 18 in einem Verein Fußball gespielt, dann aber gemerkt, dass es nicht so ganz meins ist. Damals bin ich meistens mit dem Rad zum Training gefahren – meinem Trainer hat das gar nicht getaugt, der wollte mich lieber laufen sehen. Ein Bericht über das RAAM und Wolfgang Fasching (zwischen 1997 und 2002 dreifacher RAAM-Sieger aus Österreich, Anm.) hat dann alles verändert. Das wollte ich auch mal machen! Zunächst war das natürlich ein sehr fernes Ziel – in etwa so fern, wie für einen Berg-Neuling der Gipfel eines Achttausenders. Doch ich hatte schon bei meinen ersten Langdistanz-Rennen Erfolg und beschloss, mein Umweltschutz-Studium fürs Erste bleiben zu lassen.
Ein mutiger Schritt, oder?
Vom Radfahren leben konnte ich tatsächlich erst nach meinem ersten RAAM-Sieg im Jahr 2011, davor hieß es irgendwie über die Runden kommen. Ich habe auf Studentenniveau gelebt, mir günstige Wohnungen gesucht und im Sommer in der Fabrik bei der voestalpine etwas dazuverdient. Selbst nach meinem ersten RAAM-Sieg bin ich in Graz noch als Fahrradkurier unterwegs gewesen.
Du hast schon den großen organisatorischen Aufwand angesprochen – wie groß ist dein Team beim RAAM und was steckt noch alles hinter diesem Projekt?
Ich habe insgesamt 11 Betreuer und wir sind mit drei Fahrzeugen, die wir in Amerika mieten, unterwegs: einem Wohnmobil und zwei großen Autos, um im Fall einer Panne Ersatz zu haben und nicht zu viel Zeit zu verlieren. Insgesamt nehme ich 400 kg Ausrüstung in die USA mit. Ich selbst bewege drei verschiedene Rennräder, ein Zeitfahrrad für die Ebenen, ein besonders leichtes Bergrad und ein Reserverad. Dann kommen noch solche Dinge wie Stromanlage, Spannungsumwandler, Zusatzschweinwerfer, Lautsprecher, Navi-Ladestation etc. dazu.
Wozu brauchst du denn gleich 11 Betreuer?
Von den 11 Teammitgliedern betreuen mich immer drei 12 Stunden lang durchgehend im Schichtbetrieb. Drei sind fürs Filmen, Fotografieren und die Social-Media-Berichterstattung zuständig, zwei fürs Wäschewaschen und Kochen im Wohnmobil. Dann gibt es noch Mechaniker, einen Sportwissenschaftler, einen Physiotherapeuten und einen Arzt, der mich in regelmäßigen Abständen untersucht.
Du betonst immer, wie wichtig das Team für dich ist…
Das Team ist für mich unglaublich wichtig – das sind alles gute Freunde. Mit ihnen muss ich lachen können und mich auch nicht schämen müssen, wenn ich gerade ein mentales Tief habe. Die Chemie muss schon alleine deshalb stimmen, weil wir ja tagelang ein Gesprächsthema brauchen.
Worüber unterhält ihr euch denn so, während du durch die amerikanische Weite kurbelst?
Neben dem Rennverlauf über alles Mögliche: Wir erzählen uns Anekdoten, gemeinsame Erinnerungen, Witze. Und ich lasse mir von den Jungs auch sehr gerne User-Kommentare auf meinem Facebook-Profil und aktuelle Nachrichten vorlesen. Beim kommenden RAAM wird die gleichzeitig sattfindende Fußball-WM sicher ein großes Thema sein – jeder von uns hat so seine Lieblingsmannschaft, der er die Daumen drückt.
Was ist das für ein Gefühl in Oceanside (Kalifornien) an der Westküste am Start zu stehen und zu wissen: Ich muss mich jetzt gleich aufs Radl setzen und in einem Stück quer durch die USA an die Ostküste fahren? Ist dir überhaupt bewusst, wie unglaublich weit das ist?
Am Start realisiere ich nicht, wie weit es ist. Für mich sind es einfach „nur“ acht Tage Radfahren (lacht). Über die Distanz so richtig bewusstgeworden bin ich mir erst, als ich sie 2015 verletzungsbedingt mit dem Auto zurückgelegt habe. Wir mussten es zur Mietwagenzentrale in Washington zurückbringen und nach einigen Stunden am Beifahrersitz dachte ich mir: das ist schon verdammt weit.
Du nimmst dieses Jahr zum achten Mal teil. Ist die Strecke jedes Jahr dieselbe? Gibt es auf einer Distanz von knapp 5.000 km so etwas wie Orientierungspunkte?
Absolut. Ich denke immer in 100-km-Blöcken und Timestations, wo die Zwischenzeiten gemeldet werden – so erscheint die Aufgabe gleich viel lösbarer. Ich weiß z.B., dass ich am ersten Tag 200 km fahren muss, bevor es dunkel wird. Die erste Nacht fahre ich ohne schlafen durch, dann kommen die ersten Berge. Man kann wirklich sagen, dass ich die Strecke fast auswendig kenne. Ich merke mir viele Details am Streckenrand und weiß genau, welche Geschichte ich an einer bestimmten Stelle vor drei oder vier Jahren erzählt habe. Allerdings wäre es schön, wenn die Veranstalter mal für Abwechslung sorgen würden – die Strecke ist seit acht Jahren fast unverändert.
Du schläfst während der acht Renntage in Summe weniger als neun Stunden. Was macht das mit Körper und Psyche? Fällt der Körper irgendwann nicht automatisch in den Schlaf?
Richtig trainieren lässt sich das nicht… Man kann sich ab drei Monaten vor dem Start einem Kaffeeentzug unterziehen – so wirkt das Koffein während des Rennens stärker. Aber es fällt mir von Jahr zu Jahr schwerer, auf Kaffee zu verzichten (lacht). Ansonsten habe ich eben 11 Leute um mich versammelt, die ständig mit mir reden und mir Musik vorspielen. Die Auswirkungen des Schlafentzugs kann man in drei Phasen einteilen: In den ersten zwei Nächten fallen einem ständig die Augen zu – da ist vor allem der Sekundenschlaf eine echte Bedrohung. Ab der dritten Nacht hat sich der Körper gut auf die Schlaflosigkeit eingestellt, doch es machen sich Nebenwirkungen bemerkbar: ich werde vergesslich, wie ein alter Mensch, und weiß manchmal nicht mehr über meine Ziele Bescheid. Und es heißt immer höllisch aufpassen, dass man bei kurzen Stopps oder bei der Pinkelpause nicht einschläft. Ab der siebenten Nacht treten dann Halluzinationen auf. Ich kann mir bestimmte Sachen nicht mehr erklären, verstehe oft kein Wort von dem, was meine Jungs zu mir sagen. Manchmal müssen sie mir fünf Mal dieselbe Frage stellen. In dieser Phase schwanke ich sehr schnell zwischen Weinen und Lachen, zwischen Verzweiflung und Euphorie.
Aber ist das nicht der reinste Alptraum?
Eigentlich ja. Aber ich weiß schon im Vorfeld, dass diese Dinge eintreten werden. Und ich weiß, dass ich dann nicht alleine sein werde, sondern Leute um mich habe, die auf mich aufpassen. Deshalb ist die Vertrauensbasis auch so enorm wichtig. Deshalb ist mir auch der Team-Spirit so wichtig. Ich denke das unterscheidet mich von den anderen Fahrern, von denen viele doch viel mehr Egoisten und auf sich fokussiert sind.
Du schläfst jeden Tag eine Stunde. Was ist das für ein Schlaf? Träumst du dabei? Und wie fühlt es sich an, wieder aufgeweckt zu werden?
Nein, ich habe keine Träume. Ich schlafe so tief, dass mich der Physiotherapeut eine Stunde lang massieren kann, ohne dass ich irgendwas davon bemerke. Das Aufgeweckt werden gehört wirklich zum Allerschlimmsten beim RAAM, eine Katastrophe! Du wirst von zwei Leuten angezogen, gedehnt, durchgeklopft, aufs Rad gesetzt – der Rest redet auf dich ein. Die Schmerzen sind nach dem Schlaf auch wesentlich größer, weil deine Muskeln nicht durchblutet sind.
Wo holst du in solchen Phasen noch deine Motivation her?
Da ist es wirklich nur noch ein Automatismus. Erst später – zurück auf der Strecke, womöglich in Führung liegend – kommt ein ganz wesentlicher Motivationsschub dazu. Ich schaue meinen Teammitgliedern in die Augen und sehe: die wollen, dass ich weitermache! Solange ich noch klar im Kopf denken kann, kommen auch andere Überlegungen hinzu. Soll ich mich wirklich ein ganzes Jahr umsonst auf dieses Ziel vorbereitet haben? Wozu bin ich etliche Sonntage sieben Stunden lang auf dem Ergometer gesessen, während andere Party gemacht haben? Je akribischer du dich vorbereitet hast, desto unwahrscheinlicher ist es, dass du aufgibst. Zumal mein ganzes Leben am RAAM und den Vorträgen darüber hängt, ähnlich wie das Leben anderer an ihrer Firma.
Wenn man an das RAAM denkt, dann hat man in erster Linie unendliche Weiten im Kopf – dabei vergisst man ein wenig, dass du ja immerhin auch die Rocky Mountains überquerst. Wie herausfordern sind die Bergetappen, vor allem im Rahmen eines Non-Stop-Rennens?
Wenn ich zu den Bergen komme, bin ich ziemlich genau 48 Stunden im Sattel und bin schon rund 1.400 km Radgefahren. Grundsätzlich muss man sagen, dass die Rockies im Vergleich zu den Alpen nicht besonders anspruchsvoll und im Durchschnitt viel weniger steil sind, zwischen 6 und 8 Prozent. Das ist am Großglockner oder in den Tiroler Bergen wesentlich schlimmer. Was es in den Rockies aber schwermacht, ist die dünne Luft und der enorme Temperaturunterschied. Dort kann es am Nachmittag 40 und nach Mitternacht 0 Grad haben. Der höchste Punkt ist mit 3.300 m der Wolf Creek Pass in Colorado, dann kommen noch zwei Pässe, die auf über 2.000 m gehen. Insgesamt sind beim RAAM rund 53.000 hm zu bewältigen.
Du hast beim RAAM bisher zwei Mal aufgeben müssen und beide Male passierte es in den Rockies.
Das stimmt – und in beiden Fällen war es ein Lungenödem, das mich zum Absteigen zwang. Aus diesem Grund habe ich auch ganz viel Respekt vor diesen 24 Stunden in den Bergen. Wenn man da nicht mehr ganz fit reinfährt, ist die Gefahr groß, dass man das Rennen aufgeben muss, denn die Lunge ist durch den Staub der endlosen Wüstenkilometer davor schon sehr angeschlagen.
Wie gehst du mit Schmerzen um? Kann man Schmerzen ausblenden oder in Auf- und Ab-Kurbeln auflösen?
Ich habe in den letzten Jahren viel an meiner Fahrposition optimiert und somit etwa im Knie viel weniger Schmerzen als früher. Aber natürlich: die Muskeln tun weh, die Finger werden irgendwann taub… Da sage ich mir: Der Schmerz ist da, aber nach zwei oder drei Tagen ist alles wieder vorbei. Es ist nur vorübergehend und das macht es überschaubar und erträglich. Im schlimmsten Fall gibt es immer noch die Schmerztablette – aber die belastet die Magen-Darm-Flora und macht müde. Ich habe beim RAAM bestimmt weniger Schmerztabletten genommen, als es so mancher Ottonormalverbraucher im Alltag tut.
Wie geht es eigentlich deinem Hintern? Wenn jemand eine gute Gesäßcreme empfehlen kann, dann wohl du!
Da empfehle ich ein ganz gängiges Hausmittel, nämlich Hirschtalg, mit dem man ja auch die Füße vorm Wandern einschmiert. Wir haben auf dieser Basis eine eigene Sitzcreme zusammengemischt – da kommt noch Olivenöl und ein Antibakterium dazu.
Wie sieht deine Ernährung während des RAAM aus?
Ich nehme ausschließlich Flüssignahrung zu mir – und das schon ab drei Tage vor dem Rennen. Diese „Astronautennahrung“ belastet den Magen nicht und da ist alles drinnen, was ich brauche. Man verspürt danach keinen Hunger und wird auch nicht müde. Das Ziel ist es, 12.000 Kalorien pro Tag zu sich zu nehmen, das sind circa 500 Kalorien pro Stunde.
Wieviel Liter trinkst du am Tag?
In den ersten Tagen in der Wüste trinke ich etwa 30 Liter pro Tag. Wobei, anders als vielfach angenommen, zu viel Trinken auch nicht gut ist. Wenn das passiert, kann der Körper die Flüssigkeit nicht mehr absorbieren. Man bekommt eine aufgeschwemmte Haut und ein ganz rundes Gesicht. Wirklich gefährlich wird es, wenn Wasser auch in die Lunge eindringt. Aber dafür habe ich ja einen Arzt, der alles protokolliert und vorgibt, wieviel ich essen und trinken soll. Das ist insbesondere dann wichtig, wenn mein Körpergefühl nicht mehr richtig funktioniert.
Laufen die Schlafenszeiten auch strikt nach Plan ab?
Grundsätzlich ja, aber da gibt es mehr Spielraum fürs Improvisieren als bei der Ernährung. Mein Schlafbudget sind insgesamt 6 bis 8,5 Stunden. Die ersten 36 Stunden fahre ich durch, dann sollte ich planmäßig eine Stunde pro Tag schlafen. Man kann aber durchaus mal außerplanmäßig einen 20minütigen Powernap einschieben. Dabei sollte man den Zeitpunkt aber intelligent auswählen. Wenn gerade ein Unwetter aufzieht, macht es Sinn. Sich bei starkem Rückenwind hinzulegen ist hingegen ein Anfängerfehler – den muss man ausnutzen.
Du hältst dich ja auch gerne mit Musik bei Laune – verrätst du uns einige Fixstarter in deiner Playlist?
Es ist ein Mix aus Musik, bei der ich in den Flow komme, und Songs, die einfach spaßig sind. Während des letztjährigen Rennens war zum Beispiel „Vollegas Leberkas“ eine riesen Gaudi. Eine Lieblingshymne von mir ist „Young Blood“ von The Naked and Famous. Auch von Coldplay geht bei mir alles ziemlich gut rein.
Kannst du die Landschaft der USA überhaupt genießen, oder fährst du am Monument Valley vorbei und denkst dir: endlich hinter mir? Welche Streckenabschnitte sind für dich die schönsten, welche die härtesten?
Landschaftlich lässt sich die Strecke in vier Abschnitte unterteilen: Da sind zunächst die flachen, wüstenreichen Passagen wie Arizona – das geht in etwa bis zum Monument Valley. Dieser Teil ist superschön, aber die Hitze macht einem hier sehr zu schaffen. Dann gibt es die Rockies, vor denen ich aus erwähnten Gründen großen Respekt habe. Dazwischen liegen die großen Ebenen, wo ich ordentlich Druck machen kann. Dieses Terrain liegt mir besonders – mit meiner Statur und meinen 80 Kilos bin ich ja alles andere als ein idealer Bergfahrer. Zum Schluss kommt dann noch ein zweiter, kleiner Gebirgszug – die Appalachen. Die sind zwar kurz, haben aber sehr steile und giftige Anstiege – das ist zu dem Zeitpunkt schon brutal schwer.
Dann kommst du ins Ziel. Da ist es, wie du in einem deiner Vorträge geschildert hast, meistens Nacht, außer den eigenen Leuten ist kein Mensch dort und als Trophäe gibt es eine Art „Jausenbrettl“. Was fühlst du da?
Im Ziel bin ich zunächst mal ziemlich grantig und müde (lacht). Und ich frage mich jedes Mal, wer sich so einen Schaß ausgedacht hat: Die letzten Kilometer führen über einen vierspurigen Stadt-Highway – es ist laut und gefährlich. Im Zielbereich herrscht eine absolut trostlose Stimmung, da will ich wirklich nur ins Bett. Die schönen Momente spielen sich eher so ein- bis zweihundert Kilometer vor dem Ziel ab, da feiere ich ein bisschen mit meiner Crew.
Bist du im Ziel geistig immer da?
Ja, ich komme immer völlig klar und hellwach ins Ziel, kann problemlos Interviews geben. Von außen muss ich aussehen wie ein körperliches Wrack, aber geistig bin ich voll da.
Wie wirst du in Amerika wahrgenommen? Der „lonesome rider“ ist ja eigentlich ein populärer amerikanischer Heldentypus. Als Ultra-Cycler giltst du aber wohl eher als Exot?
Ja, definitiv. Radfahren hat in den USA aber generell einen geringeren Stellenwert – auch der Profi-Radsport – und ist im Alltag der Menschen viel weniger verankert. Es ist dort in etwa so populär wie bei uns American Football (lacht). Wobei man differenzieren muss. In Kalifornien sind schon sehr viele Radfahrer unterwegs, im Mittelteil der USA, in den großen Ebenen, so gut wie keine. In manchen Gegenden sehen die Leute einmal im Jahr einen Radfahrer – und das bin ich (lacht). Während dir in Kalifornien Leute Wasserflaschen durchs Autofenster reichen, wirst du woanders beschimpft und vom Weg abgedrängt.
Wie viele Tage Erholung brauchst du nach einem RAAM, um wieder halbwegs aufrecht gehen oder dich wieder auf ein Rad setzen zu können? Wie lange schläfst du nach der Zieleinfahrt?
Zu Beginn schlafe ich sehr schlecht, weil mir noch viel Stress in den Gliedern steckt. Außerdem habe ich die ganze Zeit über Hunger und Durst. Gut schlafen kann ich erst nach zwei Tagen wieder, da bin ich körperlich schon wieder ziemlich fit. Nach einer Woche beginne ich eine Stunde pro Tag Radzufahren, nach 14 Tagen ist alles wieder beim Alten.
Du fährst ja neben dem Saison-Höhepunkt RAAM auch etliche andere Rennen – unter anderem auch das Race Around Austria. Wie schwierig ist es im Vergleich zum RAAM?
Das RAA ist vom Publikum und von der Stimmung her unglaublich lässig – da jubeln dir tausende Leute zu und es gibt auch ein reiches Rahmenprogramm. Es ist ohne Zweifel viel professioneller aufgezogen als das RAAM. Die Anstrengung ist durchaus mit dem RAAM vergleichbar. Man muss viel steilere Berge bewältigen – durch die vielen Höhenmeter stößt du genauso an deine körperlichen Grenzen. Das einzige, was es im Vergleich einfacher macht, ist der geringere Schlafentzug – der ist nur halb so lang. Wenn man beim RAA ins Ziel kommt, geht es beim RAAM erst richtig los. Und das RAAM lebt eben von seinem Mythos und von der einzigartigen Landschaft der USA. Das macht es einzigartig.
Christoph, vielen Dank für das ausführliche Gespräch und viel Erfolg beim kommenden RAAM!
Das RAAM 2019 kann ab 11.6. über den Live-Web-Stream auf Christophs Webseite sowie auch täglich auf Facebook verfolgt werden.
Zur Person
Christoph Strasser wurde 1982 in Leoben in der Steiermark geboren und wuchs in seiner Heimat, der Marktgemeinde Kraubath an der Mur, auf. Nach vielen Jahren im Verein hängte er mit 18 Jahren die Fußballschuhe an den Nagel und widmete sich neben seinem Studium an der Montanuni Leoben dem Radfahren. Er hatte schon bei seinen ersten Ultralangstreckenrennen Erfolg und bestritt 2009 als 26jähriger sein erstes Race Across America. 2011 gewann er das RAAM als jüngster Sieger in der Geschichte des Rennens, vier weitere Siege sollten folgen. 2014 stellte er den bis heute gültigen Streckenrekord auf. 2017 verbesserte Christoph Strasser in Grenchen (Schweiz) zudem den 24-Stunden-Weltrekord auf der Bahn.
Zum Rennen
Das RAAM wird seit 1982 jährlich ausgetragen. Das ultralange Radrennen führt durch 12 Staaten der USA, von Oceanside (Kalifornien) an der Westküste nach Annapolis (Maryland) an der Ostküste. Auf der Strecke gibt es insgesamt 57 Kontrollstellen und einige Zeitlimits. Zu bewältigen sind insgesamt 4.940 km und rund 53.000 hm. Es wird kein Preisgeld ausgezahlt.
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