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Am öftesten auf dem Höchsten

Menschen

6 Min.

06.03.2023

Foto: mauritius images/ ZUMA Press, Inc. / Alamy / Alamy Stock Photos

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Ein Leben zwischen Basislager und Todeszone: 25 Mal war Kami Rita Sherpa am Mount Everest, das ist Weltrekord. Wir treffen ihn in Kathmandu.

Text: Anna Sawerthal

Die Story ist im Bergwelten Magazin April/Mai 2022 erschienen.

„Wenn du den Everest besteigen willst, dann musst du mutig sein.“ Kami Rita Sherpa (52) sitzt in einem Teegarten in Kath­mandu. Auf seiner Jacke prangt das Logo „Everest Outfit“, genauso wie auf der Funktionshose und der grauen Kappe, die seine Augen vor den letzten Sonnen­strahlen des warmen Tages schützt. Sein Gesicht ist auf eine Art verbrannt, wie es nur die intensive Bergsonne hinbe­kommt. Er kommt gerade vom Manas­lu, einem der vierzehn Achttausender. Und in wenigen Tagen bricht er zur Ama Dablam auf.

In Nepal ist jedes Jahr im Mai Hochsaison – weder Winter noch Monsun trüben das Bergwetter im Himalaya­-Gebirge. Und das heißt für Kami Rita Sherpa: arbeiten. Nur für wenige Tage ist er auf Verschnaufpause in der nepalesischen Hauptstadt, bevor es wieder in die Ber­ge geht. „Du musst mental stark sein, Leidenschaft haben und selbstbewusst sein“, beschreibt er das Abenteuer Eve­rest. Er nimmt einen Schluck aus der Tasse, die vor ihm steht. „Tatopani“, also heißes Wasser, hat der 51­Jährige dem Kellner gedeutet. Wie beim Meditieren, sagt er dann, dürfe man beim Höhen­bergsteigen nicht den Fokus verlieren, sonst würde man vielleicht Angst be­kommen. Physische Fitness sei natürlich wichtig, genauso wie Höhentraining, am besten gleich hier im Himalaya. „Aber“, fährt Kami Rita fort, „das Wichtigste sind die Sherpas, die dich raufbringen.“ Seit der Erstbesteigung vor fast sieb­zig Jahren hat sich am höchsten Berg der Welt viel verändert. Was früher als aberwitziges Abenteuer galt, an dessen Machbarkeit viele Menschen zweifelten – und viele andere scheiterten –, ist heu­te eine Herausforderung, für die man vor allem zwei Dinge benötigt: Zeit und Geld. Einmal im Jahr tummeln sich um die 500 Everest­-Aspiranten im Basisla­ger. In einem kurzen Zeitfenster im April und Mai wollen sie den Gipfel über die nepalesische Südroute in Angriff neh­men. Kami Rita ist einer jener Sherpas, denen viele der Everest-­Bezwinger den Gipfelsturm verdanken. Als leitender Expeditionsguide führt er schon seit fast dreißig Jahren Menschen auf den Berg.


Die Männer der Berge

Selbst war er mittlerweile 25 Mal oben – öfter als jeder andere Mensch. Der Weltrekord hat sich durch seinen Job ergeben, und doch ist er stolz darauf: Auf Instagram postet er als „Everest Man“ (@kamiritasherpa) über seinen Alltag und den seiner Kollegen. Die Sherpas seien die „unverzichtbaren Männer der Berge“, steht da etwa. Oder: „Wenn du denkst, dein Job sei hart, schau dir das Foto an und denk noch mal nach.“ Von Camp 1 auf rund 6.400 Metern hat Kami senkrecht in den Khumbu­-Eisfall foto­grafiert. Sechs Menschen seilen sich ab, am Rücken jeweils ein Dutzend Sauer­stoffflaschen, deren Gewicht über Bän­der zusätzlich vom Kopf gehalten wird.

Auf den Everest zu gehen sei wie in den Krieg zu ziehen. Wenn Kami Rita seine Arbeit beschreibt, dann findet er drastische Schilderungen. Man wisse nie, ob man tot oder lebendig zurückkomme. 2014 zum Beispiel sind 16 seiner Freunde am Khumbu-Eisfall gestorben. Und doch, so zeigt er sich dann wieder überzeugt, handelt es sich um ein kalkulierbares Risiko: „Wenn man Erfahrung hat, passiert nichts.“

Kami Rita Sherpas Leben spielt sich irgendwo zwischen der ständigen Gefahr der hohen Berge und dem Reiz genau jener Todeszone ab; zwischen dem Rekordwahn der Touristen und vielleicht doch auch ein bisschen dem eigenen; zwischen dem Drang nach oben und der simplen Notwendigkeit, auf den Berg gehen zu müssen. Denn dass Kami Rita das macht, was er macht, ist kein Zufall. Er stammt aus Thame, demselben Dorf wie die berühmten Sherpas Tenzing Norgay, Ang Rita oder Appa.

Der Everest ist so etwas wie der Hausberg von Thame. Aus eigenem Antrieb hatten die Bewohner keine Motivation, raufzugehen. Immerhin leben dort oben laut lokalem Glauben Götter. Doch als immer mehr Menschen aus dem Ausland kamen und Interesse am „Jomolangma“ zeigten, nahmen die Leute die neue Gelegenheit wahr.

Früher gab es keine Schule in Thame, die einzige Chance, Geld zu verdienen, war die Trekking- und Expeditionsindustrie, erzählt Kami Rita. Tenzing Norgay, der große Everest-Erstbesteiger von 1953, wirkte noch Jahrzehnte als Vorbild: „Alle wollten bergsteigen.“

Als Kind sah Kami Rita die Bergsteiger mit ihrer tollen Ausrüstung, den guten Schuhen, und dachte sich: Eines Tages mache ich das auch. Mit zwölf begann er als Träger zu arbeiten. Bis zu dreißig Kilo schleppte er den Berg rauf und runter, bevor er Yak-Treiber wurde. Nach einigen Jahren konnte er als Trekkingguide arbeiten und führte Touristen bis auf 6.000 Meter. Schließlich hatte er sich sogar zum Kletterassistenten hochgearbeitet. 1992 konnte er endlich seinen ersten „großen Berg“ in Angriff nehmen, den Everest. Aber ganz hinauf durfte er noch nicht. Denn damals galt bei der Firma, für die er arbeitete, die Regel: Erst wer schon dreimal über 8.000 Metern war, bekommt eine Chance auf den Gipfel. Zwei Jahre später war es endlich so weit: Am 13. Mai 1995, um 11.30 Uhr, stand der damals 24-jährige Kami gemeinsam mit seinem Bruder und zwei anderen am Gipfel des Berges der Berge. Auf 8.848 Metern lachte er vor wolkenlosem Himalaya-Himmel in die analoge Kamera. Es war sein Durchbruch auf dem Weg zum Höhenbergführer.

Kami Rita Sherpas Leben spielt sich ab zwischen dem Rekordwahn der Touristen und vielleicht auch dem eigenen.


Stammgast in der Todeszone

Seitdem war der Sherpa fast jedes Jahr am Everest. Was für die meisten Bergsteiger ein einmaliges Erlebnis ist, ist für Kami Alltag. Ob er auch auf anderen Achttausendern war? Achtmal am Cho Oyu, einmal am K2, einmal am Lhotse und dreimal am Manaslu, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Insgesamt hat Kami 38 Mal einen 8.000er erklommen. Auch das ist Weltrekord.

Schwer zu glauben, dass der Mann, der hier im Teegarten sitzt, also ständig in die „Todeszone“ eintritt. In der Höhenlage über 7.000 Metern baut der Körper bekanntlich nur noch ab. Dass Kami Rita das allein am Everest nicht einmal, nicht fünfmal, sondern 25 Mal überstanden hat, kann man sich kaum vorstellen. Aber so war es bis jetzt.

„Der Berg selbst wird nicht leichter“, versucht Kami Rita eine Erklärung. Doch die Erfahrung steige, und das sei der Faktor, der am Everest über Leben und Tod entscheide. Es seien oft die billigeren Expeditionen mit den unerfahreneren Guides, die in Probleme geraten. Wenn ein Guide etwa nicht erkennt, dass ein Bergsteiger nicht mehr kann. Oder dass eine Klientin unter starkem Sauerstoffmangel leidet. „Ohne Sauerstoff werden die Leute verrückt.“ Sie haben so viel Geld gezahlt und werden extrem stur. „Sie wollen nur noch auf den Gipfel und denken nicht mehr daran, zurück zu ihren Familien zu kommen.“ Trotzdem müsse ein Guide diese Klienten sofort runterschicken. Unerfahrene würden das nicht immer richtig einschätzen.

Das Geschäft um den Everest ist hart umkämpft. Mehrere zehntausende Dollar kostet eine Expedition. Doch die Preise variieren teils stark. Dass er als profilierter Everest-Führer von Billig- Expeditionen abrät, ist wenig überraschend. Seine Statistik gibt ihm aber recht. Nach eigenen Angaben ist noch nie einer seiner Klienten gestorben. „Ich schaue mir genau an, wie die physische und mentale Kondition der Klienten ist.“ Es gehe schließlich nicht nur darum, sie raufzubringen, sondern auch darum, wie sie wieder runterkommen.

Die Kritik am Massentourismus am Everest teilt Kami Rita nicht. Auch bei dem Foto vom „Stau am Everest“ von 2019 winkt er ab: Die Staus gäbe es immer schon. Früher wurde das bloß nicht in der Form dokumentiert, deshalb wusste die breite Öffentlichkeit nichts davon. Die, die sterben, würden nicht wegen der Massen oder eines Staus sterben, sagt er. Die Probleme beginnen meist woanders – etwa wenn Vorerkrankungen verschwiegen werden. Erfahrung, Vorbereitung, klare Entscheidungen – das alles entscheidet über Erfolg oder Niederlage am Berg. Für Kami Rita Sherpa gibt es aber noch einen weiteren Faktor: die Religion. In der Vorstellung der buddhistischen Sherpas ist der Gipfel des Everest Wohnsitz einer Berggöttin. Wer hinaufwill, muss also erst mal um Erlaubnis bitten. So bringen die Sherpas ab März nicht nur Fixseile, Leitern und Sauerstoffflaschen in Position, sondern führen auch täglich Weihrauchopfer und Gebetsrituale durch. Dabei bitten sie um Verzeihung für die Störung. „Ich denke, die Antwort der Berggöttin ist der erfolgreiche Gipfel.“

Stellt sich die Frage, wie oft er noch hinaufwill. Seine Frau drängt ihn schon lange, endlich aufzuhören. Doch ganz durch mit dem Everest ist er noch nicht. Zwei oder drei Saisonen möchte er noch machen. Danach will er als Manager im Basecamp bleiben. Der Everest ist gefährlich, er ist riskant, aber er ist Kami Ritas Leben. Und doch ist er sehr stolz, dass er seinen Söhnen eine ordentliche Ausbildung ermöglicht hat. Damit sie nicht auf den Berg müssen.