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Foto: Eithan Reubens
Reise

Vom Sande verweht: Dünenwandern vor der Küste Litauens

8. August 2022
6 Min. Lesezeit

Die Kurische Nehrung, eine Halbinsel in der Ostsee, zog einst berühmte Künstler und Literaten an. Heute erkunden Nostalgiker und Naturliebhaber die Fischerdörfer, Wälder und Dünen vor der Küste Litauens und Kaliningrads.

Bericht: Win Schumacher

„Eigentlich wollte ich gar kein Fischer werden“, sagt der alte Mann mit einem Lächeln und blickt über das stille Wasser des Kurischen Haffs. Alfonsas Kauneckis kramt in seinen Erinnerungen.  „Es war eine der wenigen Möglichkeiten, um nach dem Militärdienst nicht in die Kolchosen geschickt zu werden.“ Mit seiner unvorhersehbaren Berufung gehadert hat der Litauer jedoch nie. „Da draußen bist du frei.“ Der Urgroßvater ist mit 83 Jahren der Älteste auf der Kurischen Nehrung, der noch heute bei Sonnenaufgang zum Fischfang hinausfährt – fast wie damals, als er in Juodkrantė, dem ehemaligen Schwarzort, zum ersten Mal in den Kutter stieg. Das war vor mehr als 60 Jahren.

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Die Welt war eine andere, als Kauneckis 1938 auf der anderen Seite des Haffs der Memel geboren wurde. Damals lebten hier Litauer, Deutsche und Kuren zusammen und in den Fischerdörfern bestimmte ein Gemisch ihrer Sprachen den Alltag. „Meine Eltern konnten Deutsch. Wir lebten nur drei Kilometer von der Grenze zum Memelland. Ich erinnere mich auch an einen alten Mann, der noch Kurisch sprach“, erzählt Kauneckis. Die letzten Nehrungskuren, die einst in der Region lebten, flohen am Ende des Zweiten Weltkriegs mit den Deutschen vor der vorrückenden Roten Armee. Mit ihnen verschwand die Sprache der Fischer und Seeleute, die über Jahrhunderte hier zuhause war.

Zu Besuch auf der Kurischen Nehrung

Die Sprache der Fischer

„Ich erinnere mich gut an das Kriegsende“, sagt Kauneckis, „an das zerstörte Klaipėda. Auch an die russischen Soldaten. Sie hatten amerikanische Lachskonserven.“ Die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg gilt auf der Nehrung allgemein als Epoche der Künstler und Literaten. Spätestens mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten war sie aber vorbei. Der deutsche Schriftsteller Thomas Mann, der in Nidden ein Sommerhaus hatte, floh 1933 von München nach Sanary-sur-Mer und kehrte nie mehr auf die Kurische Nehrung zurück. Die berühmte Künstlerkolonie von Nidden, die einst große Maler wie Max Pechstein angezogen hatte, verlor immer mehr an Bedeutung. Ihre Werke wurden als „entartet“ gebrandmarkt. Einige Bilder, die die Kriegsjahre im Gasthof des einstigen Mäzens Hermann Blode überlebten, fielen 1945 den Sowjettruppen zum Opfer.
Damals war noch lange nicht absehbar, dass aus dem Schmiedsohn Alfonsas Kauneckis einmal ein Fischer werden würde. Als er später wie unzählige andere Litauer nach Sibirien verschleppt werden sollte, flüchtete er und fand über Umwege schließlich auf der Nehrung Zuflucht.

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„Das Leben der Fischer hat sich gewaltig verändert“, sagt Kauneckis, nachdem er in seinem Fischergasthof Žuvelė am Uferweg von Juodkrantė Platz genommen hat und sich eine Fischsuppe servieren lässt. „In den 60ern haben wir an einem Tag 300 bis 400 Aale gefangen. Heute sind es drei oder vier.“ Von einst 30 Fischern in Juodkrantė sind nur drei übriggeblieben.
Vor der überdachten Terrasse des Restaurants sind Grüppchen von litauischen Ausflüglern unterwegs, die das sonnige Wetter auf die Nehrung gelockt hat. Wegen der Pandemie musste das Restaurant, das heute von zwei seiner Enkel geführt wird, zeitweise geschlossen bleiben. Heute ist es wieder voll mit inländischen Touristen. Kauneckis wurde nach der Unabhängigkeit Litauens vom Fischverkäufer zum Restaurantbesitzer. Doch noch immer fährt der Urgroßvater regelmäßig aufs Meer hinaus, auch nach einer im Winter überstandenen Corona-Erkrankung. „Wenn ich auf das Meer hinaus fahre, atme ich das Leben jetzt wieder in vollen Zügen.“

Impressionen von der Kurischen Nehrung

Die Pandemie hat den Alltag auf der Kurischen Nehrung verändert. „Früher kamen sehr viele Deutsche“, sagt Lina Dikšaite, „jetzt haben wir fast nur Litauer.“ Die stellvertretende Direktorin des Nationalparks Kurische Nehrung ist gerade auf dem Nagliai-Wanderpfad in den Toten Dünen bei Pervalka unterwegs. „Wir hatten 2020 etwa genauso viele Besucher wie vor der Pandemie, weil sehr viele inländische Touristen auf die Nehrung kamen. “

Es ist ein ungewöhnlich heißer Sommertag. Trotz einer frischen Brise fühlt man sich zwischen den fast vegetationslosen Sandhügeln wie auf einer Wüstenwanderung. Am Wegrand weist Dikšaite auf vom Treibsand begrabene Reste einer Siedlung hin. Das Dorf Nagliai wurde immer wieder von Wanderdünen überrollt und musste, wie einige andere Siedlungen der Kuren, schließlich ganz aufgegeben werden. Wären am Ende des Wegs nicht die sattgrünen Kiefernwälder und das dunkelblaue Haff in Sicht, man wähnte sich fast auf einem anderen Kontinent. „Ostpreußische Sahara“ wurden die Dünen der Kurischen Nehrung einst genannt.

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Wandern in den Dünen

„Viele Besucher hoffen wohl eher Elche und Seeadler auf der Nehrung zu sehen“, sagt Dikšaite, „aber auch die Dünen sind Heimat für seltene Arten.“ Brachpieper, Dünen-Sandlaufkäfer und Berg-Sandglöckchen mögen die wenigsten Touristen interessieren, doch Wanderer sind mitverantwortlich, ihren Lebensraum zu erhalten.

„Bei einer Million Touristen im Nationalpark pro Jahr ist es wichtig, die  Besucherströme zu lenken und empfindliche Habitate zu schützen“, sagt Dikšaite. „Mir wird es im Juli und August selbst zu voll hier.“ Auch immer neue Bauprojekte machen der 46-Jährigen zu schaffen. „Die Nehrung ist sehr in Mode gekommen. Das zieht Investoren an und viel Geld. Damit steigt der Druck. Manche Einheimische müssen inzwischen schon wegziehen“.

Dünenlandschaft auf der Kurischen Nehrung

Auf der gegenüberliegenden Seite der Nehrung packt Boris Belchev sein Fernrohr und seine Kamera in den Wagen. Der Natur-Guide macht sich auf zu einer Vogelbeobachtungstour entlang des Ostuufers des Haffs ins Memeldelta. Mehr als 320 Arten hat er bereits in der Region bestimmt. Auch der 35-jährige Bulgare sieht einige der jüngsten Entwicklungen in seiner Wahlheimat kritisch. Gerade ist er am neuen Wassersport-Zentrum von Svencelė  vorbeigefahren. An diesem Wochenende ist der Himmel voll mit den bunten Lenkdrachen der Kitesurfer. Wo sich früher seltene Vogelarten zum Brüten zurückzogen, wurde in den letzten Jahren ein schickes Container-Dorf für Surfer und Segler aus dem sumpfigen Boden gestampft. „Reiche Leute, die noch reicher werden wollen“, sagt der Biologe. „Wenn hier genügend Geld im Umlauf ist, werden Naturschutz-Bedenken schnell über Bord geworfen“.

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Seltene Vogelarten

Von Svencelė fährt er weiter Richtung Süden, vorbei an verfallenen Bauernhäusern, durch lichte Wälder und morastige Viehweiden. Belchevs Lieblingsorte am Kurischen Haff stehen nicht in den Reiseführern. Er steigt an einem Seggenried aus. Ein Seeadler fliegt über dem nahen Waldrand. Das Jubilieren der Lerchen liegt in der Luft. Doch Belchev hat sein Fernrohr auf die Grashalme der Wiesenebene gerichtet und horcht nach dem geschwätzigen Zwitschern eines weit unauffälligeren Sängers.

„Viele meiner Gäste kommen hierher, um seltene Arten wie den Seggenrohrsänger zu sehen“, erzählt Belchev. Der spatzengraue Vogel ist einer der seltensten Europas. Weil fast überall die für seine Brut wichtigen Seggenwiesen und Moore verschwunden sind, blieben dem einst in weiten Teilen Mitteleuropas beheimateten Singvogel nur noch wenige Reviere in Osteuropa.

„Es ist heutzutage manchmal traurig, ein Vogelbeobachter zu sein“, sagt Belchev, „manchen Arten sieht man nur noch beim Aussterben zu.“ Der Biologe lebt seit 15 Jahren in Litauen und gehört zu den besten Vogelkennern des Landes. Kranich, Goldregenpfeifer und Doppelschnepfe – Belchev weiß, wo man sie noch immer im Memeldelta aufspüren kann. Doch er wird immer wieder Zeuge, wie ihr Lebensraum vor seinen Augen verschwindet.

„Um diese Straße hier zu verbreitern, wurden jahrhundertealte Bäume gefällt“, sagt er, „die Abholzung von Wäldern und Zerstörung von Mooren geht einfach weiter.“ Auch wenn viele mittlerweile um die Bedeutung der Moore als Kohlenstoffspeicher für den Klimaschutz wissen, werden sie in den baltischen Ländern noch immer zerstört. Die wenigsten Verbraucher ahnen, dass sie beim Anlegen ihrer Gemüsebeete oder schlicht beim alltäglichen Salatverzehr dazu beitragen, dass in den baltischen Ländern weiter Sumpfgebiete verschwinden. „In beinahe jeder spanischen Gewächshaustomate und in 99 Prozent aller in der EU verspeisten Salatköpfe steckt baltischer Torf in der Erzeugung“, sagt Nerijus Zableckis vom litauischen Naturschutzfond.

Ostseestrand an der Kurischen Nehrung

Nicht weit von den Seggenrohrsängern fliegt eine Schar Trauerseeschwalben auf. Auch sie sind durch die Zerstörung von Sumpfgebieten selten geworden. „Lassen wir sie also in Ruhe brüten!“, sagt Belchev. Am Ende der Vogelbeobachtungstour bringt der Guide seine Gäste auf die Insel Rusnė. Belchevs Haus ist das letzte am Memelufer. Von seinem Balkon kann er hinüber auf die russische Provinz Kaliningrad sehen, wo zwei Fischer gerade ihre Angel ausgeworfen haben. Eine litauische Grenzpatrouille dümpelt auf dem Arm der Memel, der heute Russland von der Europäischen Union trennt. Auf dem schmalen Streifen Land zwischen seinem Garten und der russischen Landzunge beobachtet Belchev die vorbeiziehenden Vögel, darunter Sterntaucher, Raubwürger und Kraniche. „Für Menschen ist der Fluss heute unpassierbar“, sagt Belchev, „nur die Vögel kennen keine Grenzkontrollen.“

 

Boote und Fischerhäuschen

Infos und Adressen: Kurische Nehrung, Litauen

Hin und zurück:

Zum Beispiel mit Lufthansa oder Air Baltic nonstop ab mehreren deutschen Flughäfen nach Wilna oder Kaunas. Für den Besuch der Kurischen Nehrung und des Haffs empfiehlt sich ein Mietwagen.

Unterkünfte:

Im ehemaligen Fischerdorf Juodkrantė gehört das Prie Ąžuolo zu den schönsten Unterkünften.
www.prieazuolo.lt

Von der Vila Elvyra etwas außerhalb von Nidden hat man eine traumhafte Aussicht auf das Kurische Haff.
www.vilaelvyra.priejuros.lt

Nicht nur Vogelliebhaber finden auf dem Fischergasthof Mėlynasis Karpis bei Kintai das ideale Quartier für Erkundungstouren ins Memeldelta. www.kintai.lt/turizmo-kompleksas

Essen und Trinken:

Frischen Fisch aus dem Haff probiert man am besten im Restaurant Žuvelė in Juodkrantė. www.jovila.lt/zvejo-uzeiga-zuvele

Natur erleben:

Mit Alcedo Wildlife bietet Boris Belchev geführte Vogel- und Naturtouren am Kuringischen Haff und im Memeldelta an. www.alcedowildlife.com

Veranstalter:

Geoplan Privatreisen stellt maßgeschneiderte Reisen ins Baltikum zusammen und hat die wichtigsten Nationalparks Litauens, Lettlands und Estlands im Programm. www.geoplan-reisen.de

Weitere Informationen:

www.lithuania.travel

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