16.600 Touren,  1.600 Hütten  und täglich Neues aus den Bergen
Foto: Philipp Forstner
Bergporträt

König Dachstein: Mythen, Menschen, Möglichkeiten

• 19. Oktober 2021
9 Min. Lesezeit

Geheimnisvolle Felsritzer, unbeugsame Einheimische, verwegene Kletterer: Der Dachstein ist ein alpiner Superlativ und der vielseitigste Gebirgszug der Ostalpen. Drei steirische Annäherungen an die Gemächer Seiner Majestät.

Autor: Klaus Haselböck für das Bergwelten Magazin Juni/Juli 2015

In der Notgasse liegt bis in den Sommer hinein Schnee. Das stört aber kaum jemanden. Denn in der schattigen Schluchtstrecke oberhalb von Gröbming, im östlichen Bereich des Dachsteingebirges, sind selten Wanderer unterwegs. Und die müssen genau hinschauen, damit sie die Felsritzungen an den Wänden überhaupt sehen: Sind es Wegmarken von Wilderern, mystische Fruchtbarkeitssymbole oder simple Tabellen über lokale Geschäfte?

„Jeder interpretiert da sein Weltbild hinein“, sagt der Schriftsteller Peter Gruber. Er zeigt auf eine gut erkennbare Vertiefung in Pentagramm-Form. „Die ältesten Ritzungen wurden auf das achte Jahrhundert datiert.“

Zum Dachstein an sich und der Notgasse im Besonderen hat der in Wien lebende Peter Gruber ein intimes Verhältnis: Auf einem Bergbauernhof nahe Pruggern ist er aufgewachsen, der Gebirgsstock ist die Basslinie in all seinen Büchern, mit ihm frischt er auch jährlich den Kontakt auf: In den schroffen Flanken, dort, wo oberhalb von Gröbming die Markierungen enden, verbringt er seit Jahrzehnten den Sommer als Viehhirte. Seit sechs Uhr früh sind wir auf dem Weg.

Beim Stoderzinken durchstoßen wir endlich die fette Wolkendecke, die schützend über dem Ennstal liegt. Unser Blick weitet sich auf einen Gebirgszug der Superlative: Ganz im Westen, noch im Bundesland Salzburg, hebt mit der eleganten Bischofsmütze die felsige Parade an. Ihre Krönung findet sie im Hohen Dachstein, dessen wuchtige Gestalt schon von weitem sichtbar ist. Dreißig Kilometer später läuft sie mit dem Stoderzinken aus.

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Gewaltige Wände, wilde Gletscher und einsame Karstflächen – es ist der vielseitigste Gebirgszug der Ostalpen. Die Gemächer von „König Dachstein“ sind so gegensätzlich und vielfältig, wie man eine alpine Großlandschaft nur erträumen kann. Sie beherbergen eine Welt der Mythen, der Geschichten, der Möglichkeiten.

Südwand des Dachsteins
Foto: Philipp Forstner
Almidyll trifft Hoch­gebirge: 850 Meter ragt die Südwand des Hohen Dachsteins über den Schnee­feldern auf. Ein Berg wie geschaffen für Bergsteiger, Genießer und Träumer.

Das Kemetgebirge und die Stille

Im wilden Osten ist die alpine Einsamkeit zu Hause: Hinter den letzten Liftstützen des Skigebiets Stoderzinken und den verwaist wirkenden Ferienhäusern scheinen die Wege zu enden, damit ein unbekannter Dachstein beginnen kann: Das „Kemetgebirge“, wie dieser Abschnitt auch genannt wird, hat die Stille für sich gepachtet.

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Aber hier ist noch etwas anders: Es gibt Bäume, und zwar jede Menge davon. „Am Dachstein hat sich immer alles um das Holz gedreht“, sagt Peter Gruber, während wir uns über den rutschigen Steig in einen ersten Kessel hinuntertasten. „Im Norden wurde es in den Salinen gebraucht und im Süden an der Eisenstraße.“ Um den Hunger der bestimmenden Industrie jener Zeit zu stillen, wurden Baumriesen selbst aus entlegeneren Gebieten mit Ochsenfuhrwerken ins Tal geholt. Zu Aufforstungen – wie in dem Wald, den wir gerade durchqueren – kam es erst spät, manchmal auch zu spät. Wo die Verkarstung schon eingesetzt hatte, blieben die Gebiete kahl.

Reizvolle Doppeldeutigkeit

Durch die Fichten lugt jetzt der Hirzberg. Hier ist das Gelände unübersichtlich. Für die Überquerer des Dachsteinmassivs, die vom steirischen Ödensee aus zum oberösterreichischen Krippenstein wandern, gilt er als wichtiger Orientierungspunkt. In einer großen Schleife biegen wir in die Notgasse ab und rätseln: Was könnte dieser seltsame Hohlweg einst gewesen sein?

Als Abkürzung für die Säumer – die Spediteure des Mittelalters – ergibt er geografisch keinen Sinn. Als Schauplatz kommt er auch in den Märchen und Legenden der Region nicht vor. Die Felsritzungen sind aber trotzdem da und wahren ihr Geheimnis. In dem Namen, den er als Titel seines bekanntesten Romans gewählt hat, sieht Peter Gruber eine reizvolle Doppeldeutigkeit: „Notgasse meint den geografischen Ort, genauso ist er ein Symbol für die damalige Zeit.“ Durch den hohen Steuerdruck wurde das Leben für die Bauern des 16. Jahrhunderts perspektivenlos.

Gemeinsam mit den Schladminger Bergknappen, die den Protestantismus in die Region brachten, entschlossen sie sich zum Aufstand: „Die neue Religion war keine Frage der Heilserwartung, sondern die Hoffnung auf wirtschaftliche Entlastung“, so der Autor, der mit diesem Buch der kollektiven Erinnerung Worte gab und auch auf eigenen Spuren wandelte: „Auf alten Fotografien meiner Familie ist nie ein Lächeln zu sehen. Das Ennstal war immer eine schöne, aber über lange Zeit bettelarme Gegend.“

Den Umschwung sollten weder der Aufstand noch die anschließende Gegenreformation bringen, sondern erst der Tourismus. Und der kam über das Interesse der Städter am Alpinen. Seit hier Ortsfremde auftauchen, um auf den Bergen unterwegs zu sein, haben die Bewohner des Ennstals eines mit ihren Gästen gemeinsam: das zufriedene Lächeln in ihren Gesichtern.

Zwei Kletterer auf einer Seilbrücke.
Foto: Philipp Forstner
Ein wackeliger Beginn: Die Seilbrücke ist der Einstieg zum Hias-Klettersteig. Danach ist Schmalz hilfreich.

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Unvorstellbare Naturgewalten

So lächelt auch Herwig Erlbacher: „Wem der Dachstein zu hoch ist, der geht in die Silberkarklamm.“ Vor mehr als hundert Jahren hatte sein Urgroßvater die reizvolle Alm am östlichen Ortsende von Ramsau erworben. Mehr Weideplätze für seine Kühe zu haben war sein Ziel, das erreichte er aber nur bedingt: Denn für die Dachstein-Ausläufer ist das Silberkar wie ein großer Trichter, in den sie ihre Last aus Schnee, Fels und Erdreich abladen. In den späten Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts verwüstete eine gewaltige Mure die Alm, machte sie für die Milchwirtschaft unbrauchbar und damit ein Umdenken notwendig.

„Die Naturgewalten müssen unvorstellbar gewesen sein“, so Herwig Erlbacher, der heute den väterlichen Bauernhof führt und den Berg in seiner Eigenständigkeit und Wildheit respektiert: „Dem Lodenwalker, der damals nahe beim Klammeingang seinen Betrieb hatte, wurde sein gesamtes Lager in die Enns gespült.“

Ausgerechnet die Klammstrecke, die das Silberkar mit Ramsau verbindet, sollte sich als das eigentliche Kapital erweisen: Matthias, Herwigs Großvater, bewies touristischen Weitblick und machte den Abschnitt mit Bretterkonstruktionen der naturinteressierten „Herrschaft“ aus der Stadt gegen Gebühr zugänglich. Die alte Mauthütte steht heute noch am Klammeingang, und die Idee des Großvaters funktioniert besser denn je.

Auch für die Einheimischen: Lukas Royer und Carina Walcher schätzen diese Oase, die selbst bei Schlechtwetter einen Besuch wert ist. Die beiden kommen heute auf einen Kurzbesuch vorbei: Die Tage sind schon lang genug, um am Nachmittag noch einen Klettersteig hinaufzusprinten. Den anspruchsvollen „Hias“, dessen Einstieg keine zehn Minuten vom Parkplatz entfernt ist, hat Herwig dem klugen Großvater gewidmet.

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Gekonnt balancieren Lukas und Carina über die erste von zwei Seilbrücken und klinken danach ihre Karabiner in das Stahlseil ein. Beim ersten Steilaufschwung ist Kraft im Oberarm gefragt, danach verschwinden sie aus dem Blickfeld.

In einer Stunde werden sie vom höchsten Punkt aus die Klamm überblicken können. Zum „Hias“ ist mit der ebenfalls schneidigen „Rosina“ im letzten Jahr ein neuer Eisenweg hinzugekommen. Etwas gemächlicher sind die Schwierigkeiten am „Siega“, der sich am Talschluss bergwärts schlängelt. Apropos gemächlich: Als werdende Mutter wird Carina wohl bald einen Gang zurückschalten. Mit dem Nachwuchs ist die Silberkarhütte, die man über die spektakuläre Klammstrecke in einer Stunde erreicht, ein ideales Ziel.

Kinder wie Erwachsene sind für den Ausflug gleichermaßen zu motivieren – denn dort serviert der Hausherr Steirerkasbrote, hausgemachten Kaiserschmarrn und Buttermilch. In der warmen Jahreszeit steigt er dafür täglich von seinem Bauernhof ins Kar hinunter. Denn er liebt seine Silberkarklamm: „Der Platz hat schon was.“

Vom Klettern am Dachstein

Eine felsige Tafelrunde

Am Brandriedel, der charmanten Alm im Erdgeschoß des steirischen Dachsteins, hört man endlich wieder die Kuhglocken. Die ersten Hummeln kurven durch die Wiese, das Grün, obwohl noch ausgezehrt vom Winter, schmeichelt den Augen. Die Landschaft atmet Beschaulichkeit. Es liegt aber auch Abenteuergeist in der Luft: Wo die Alm endet, wölben sich so gewaltige Wände in das krachblaue Firmament, dass der Nacken schon beim Hinaufschauen schmerzt. Herbert Raffalt bringt diese Szenerie ins Träumen.

„Dort oben ist Heimat für mich“, sinniert der gebürtige Schladminger und deutet hinauf zum Hohen Dachstein. In einer felsigen Tafelrunde sitzt dieser als König mit dem formschönen Mitterspitz und dem weiter westlich gelegenen elitären Torstein an seiner Seite.„Du bist mit dem Berg verbandelt“, lacht seine Frau Silke, „Soll ich jetzt eifersüchtig werden?“

Gemeinsam mit Herbert hat sie es sich auf der Alm gemütlich gemacht und folgt seinen Blicken in die rauen Kalkfluchten. Als Bergführer und passionierter Fotograf ist Herbert Raffalt ein Privilegierter. Er lebt von und mit dem Dachstein.

Zu allen vier Jahreszeiten verbringt er einen Gutteil seiner Zeit hoch über dem Ennstal. Diese Faszination am Alpinen kann Silke nur allzu gut verstehen – ist die Rohrmooserin doch auf der Gollinghütte in den Niederen Tauern aufgewachsen. Dort sind sich die beiden das erste Mal begegnet. Nur für den Dachstein muss stets genug Platz sein – und der ist es jetzt auch, der Herbert unruhig macht: „Komm, lassen wir den Berg nicht warten“, sagt er und steht mit einem Ruck auf. 

Also ab zur DachsteinSüdwandbahn, dem Expressaufstieg in das Herz des steirischen Hochgebirges. Die Gondel ist der Treffpunkt all jener Menschen, die am Berg arbeiten, ambitionierte Pläne mit ihm verfolgen oder einfach nur dem Horizont näher sein wollen.

Holzhaus mit Gastgarten
Foto: Philipp Forstner
Die Brandalm hat lange kulinarische Tradtion.

Für Herbert Raffalt ist sie sein verlängertes Wohnzimmer: Er kennt einen Großteil der Mitreisenden, schüttelt Hände, und in den kurzen Gesprächen steht zumeist das „Wohin gehst?“ im Mittelpunkt. Dann schiebt er seine Sonnenbrille auf die Stirn und liest in den Südwänden seine Lieblingstouren nach: „Schau, dort drüben ist die Maixkante.

Und am Steinerweg wird schon geklettert.“ Die Himmelsleiter, die Georg „Irg“ Steiner und sein Bruder Franz 1909 von den letzten Schneefeldern bis zum Gipfel des Dachsteins als Erste durchstiegen, ist ganz klar die berühmteste Klettertour der Region. Heute will sie jeder ambitionierte Alpinist in seinem Tourenbuch haben. Den Ausstieg am Hunerkogel erleben alle als einen Moment des Durchschnaufens. Die Luft ist hier, auf 2.700 Meter Höhe, vernehmlich dünner, und das Thermometer ist doch um einige Grade gefallen.

Zusätzlich raubt der Ausblick den Gästen den Atem: Das Dachsteingebirge hat im Westen eine andere, epischere Dimension. Die Karsthochfläche wölbt sich nach Süden mit den höchsten Gipfeln der Steiermark und Oberösterreichs auf, während aus dem Norden die Seen des oberösterreichischen Salzkammergutes dunkel heraufschimmern. Das Panorama, das sich schon von der Bergstation eröffnet, muss man sehen.

Hier sollte man einmal in seinem Leben gestanden sein: Für ein Selfie in einem der Strandkörbe, die nahe der Seilbahn aufgestellt sind, für einen Gletscherspaziergang oder eine Besteigung des Hohen Dachsteins, wie Silke und Herbert sie vorhaben. Die Magie des Ortes hat sich herumgesprochen, der Tourismus ist hier alles andere als in einer „Notgasse“.

Wassertränke mit Hund
Foto: Philipp Forstner
Auf der Brandalm lohnt es sich nicht nur zu wandern, auch die Einkehr muss zelebriert werden.

Den beiden ist der Trubel zu viel des Guten. Flugs queren sie den Hallstätter Gletscher hinüber in Richtung Seethalerhütte, wo sich ab Mittag die stolzen und entsprechend hungrigen Bezwinger des anspruchsvollen JohannKlettersteigs einfinden werden. Während sie an der felsigen Schulter des Hohen Dachsteins Helme, Gurte und Klettersteigsets anlegen, kommen Erinnerungen an ihre eigenen fünf Jahre als Pächter der Südwiener Hütte hoch: „Na, bist spontan bereit für 150 Mittagessen?“, feixt Herbert und kann seiner Silke damit nur ein säuerliches Lächeln entlocken.

Auf den Berg gehen die beiden heute lieber zum Klettern als zum Kochen. Seine Majestät ist heute ungewöhnlich einsam. Offenbar liegt noch zu viel Kälte in der Luft und Schnee am Fels. Die beiden, die gemeinsam schon auf großen Alpengipfeln wie dem Mont Blanc, dem Großglockner oder dem Großvenediger gestanden sind, stört das ganz und gar nicht.

Und für Herbert, den Augenmenschen, liegt gerade in den Übergangszeiten der größte Zauber: „Es sind die größten Momente, wenn der Nebel aufs Plateau kommt und der Wind an mir zerrt.“ Dass die beiden jetzt so locker über den Schulteranstieg in Richtung Gipfel hinaufturnen, hat viel mit dem legendären „Dachstein-Professor“ Friedrich Simony zu tun. 1840 kam er aus Böhmen ins Ausseerland – ohne alpine Erfahrung, aber hochgradig neugierig. Der Mars muss uns heute zugänglicher erscheinen, als es das „Hallstätter Schneegebirge“ zu Simonys Zeiten war.

Dachstein Impressionen

Das erste Gipfel-Biwak im Winter

Drei frostige Dezembertage verbrachte Simony dort oben und bewies, dass der Mensch diese Jahreszeit im Gebirge überhaupt aushalten kann. Am 14. Jänner 1843 erreichte er den „Dachsteinspitz“ und nächtigte als erster Mensch im Winter am höchsten Punkt Oberösterreichs und der Steiermark. Friedrich Simony erkannte auch dessen touristisches Potenzial: Er ließ Stahlstifte in den Fels treiben, Seile spannen, Leitern verschrauben und mit dem Randkluftsteig den ersten Eisenweg der Ostalpen bauen.

Seine Idee fiel in der Region auf fruchtbaren Boden: Gut zwei Dutzend Klettersteige – darunter so spektakuläre Konstruktionen wie der „Skywalk“ am Hunerkogel, der „Johann“ durch die Dachstein-Südwand oder die „Seewand“ nahe Hallstatt – machen den Dachstein heute zum Klettersteigzentrum Österreichs. Technisch gesehen ist der Schulteranstieg auf den Hohen Dachstein mäßig schwierig.

Im Frühsommer kann er aber zu einem ernsten hochalpinen Unterfangen werden, wenn – wie jetzt – Altschneefelder das Stahlseil fest im Griff haben und die Trittbügel nicht sichtbar sind. Mit Pickel und Steigeisen tasten sich Silke und Herbert behutsam über das „Mecklenburger Band“ zu Simonys Randkluftsteig hinüber. Der ist dann das große Finale und führt in gerader Linie hinauf zum Gipfel.

Eine gute Viertelstunde später enden die Versicherungen, das Stahlseil läuft aus, und das Panorama weitet sich auf X-Large. „Die schönste, die erhabenste Stunde“ seines Lebens habe Friedrich Simony dort erlebt, wo die beiden jetzt stehen, wo es nichts mehr zu tun gibt, außer zu staunen: ganz oben, in 2.995 Meter Höhe.

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