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Wandern im Walsertal: Grün bis obenhin

Regionen

4 Min.

15.04.2022

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Wo eine raue Landschaft den sanften Tourismus geboren hat, wo die Alpen dem Urwald abgerungen wurden und fast jeder zweite Bauernhof bio produziert: auf einsamer Wanderschaft im Großen Walsertal.

Sissi Pärsch für das Bergwelten-Magazin August/September 2020

Andrea Schwarzmann zeichnet das Reliefdes Walserkamms nach, fast so, als würde sie einen Pinsel führen: vom Pfrondhorn oberhalb von Fontanella über die Löffelspitze und weiter zur Tälispitze über der berühmten Probstei St. Gerold. „Grün bis obenhin“, beschreibt sie die Grasgipfel. „Und gleichzeitig“, ergänzt sie und lässt ihren Arm sinken, „ist es ein von Tobeln durchtobeltes Tobel.“ 

Eine schöne Beschreibung des Großen Walsertals in Vorarlberg und eine sehr treffende dazu: Das 25 Kilometer lange Große Walsertal in Vorarlberg ist V-förmig beschaffen. Man sucht vergeblich nach einem Talboden, so steil ragen die Hänge links und rechts auf. Und nichts anderes als ein sehr enges Tal ist mit dem Begriff „Tobel“ gemeint.

Andrea ist eine wunderbare Gastgeberin. Auf den Bänken sitzen heute hauptsächlich Einheimische beim Älplerfrühstück, das sie immer mittwochs auftischt. Alles stammt aus nächster Umgebung, das meiste aber aus Eigenproduktion. Andrea setzt sich kurz zu ihren Gästen, rückt Blumen zurecht; bald steht sie wieder auf, um den Riebel, eine traditionelle Vorarlberger Maisspeise, nachzufüllen. Dinge gleichzeitig zu jonglieren ist eine Paradedisziplin der 55-Jährigen.

Hof und Alpe, Kühe und Gäste – und Politik. Andrea ist nicht nur Berg-, sondern auch Bundesbäuerin und vertritt in der Arbeitsgemeinschaft Österreichische Bäuerinnen die Interessen von 130.000 Frauen in der Landwirtschaft. In ihrer politischen Funktion ist sie viel unterwegs. Zuhause im Großen Walsertal, zieht sie im Jahr zweimal um.

Nach dem Winter im Familienhof in Raggal geht es für etwa hundert Tage auf die Hütte am Fuß von Breithorn und Kellaspitze. „Wenn wir raufkommen“, erzählt sie, „dann erleben wir einen zweiten Frühling, weil die Vegetation hier oben später dran ist. Für uns ist es das zweite Stockwerk unserer Landwirtschaft – die schönste Etage.“ Im Herbst, wenn mit den Tieren die letzte Kuhglocke verschwunden ist, „herrscht hier absolute Stille. Wenn sich die Natur zurückzieht, folgen auch wir und gehen ins Tal“, sagt Andrea. Doch jetzt ist Sommerzeit, und die Glocken bimmeln.


Im Einklang mit der Natur


Zwölf Gemeinschaftsalpen liegen auf dem weiten Hochplateau der Sterisalpe in 1.441 Meter Höhe: sieben Familien, 93 Kühe und eine kleine Kapelle. Eine beschauliche Idylle. Über ein Drittel des gesamten Tals sind Alp- und Weideflächen, ein weiteres Drittel Waldflächen. Man lebt von der Landwirtschaft und vom Holzbau. Im Vergleich zu anderen Alpentälern ist der Tourismus noch ein feines, zartes Pflänzchen. Einige der Einheimischen wandern ab, doch andere kehren auch wieder zurück – so wie Sabine Burtscher.

Der 46-Jährigen sind wir heute morgen mit prüfendem Blick in die Seilbahn gefolgt. Ein paar Lebensmittelkisten, dicke Kräuterbüschel obenauf und vier Personen – schon ist die Kabine gut gefüllt. Der Walser Lift ist exemplarisch für das ruhige Tal: Die Station ist mehr Bushaltestelle als Massenabfertigung. 2000 wurde das Große Walsertal von der UNESCO zum Biosphärenpark ernannt, und der Alpenverein erklärte das gesamte Tal zum Bergsteigerdorf. Das Bewusstsein für die Symbiose zwischen Mensch und Natur ist hier tief verwurzelt. 

Oben angekommen, schlängelt sich ein wurzeliger Weg durch den Wald zur Sterisalpe. Am Vortag hat es geregnet. Der Waldboden riecht intensiv nach Eierschwämmen, Nadeln und Kräutern. Sabine kann sie zuordnen, kann Geschichten erzählen zu Flora und Fauna und den Bergen. Sie kennt nicht nur die Berge ihrer Heimat – sie war auch schon viel unterwegs.

Mit dem Rucksack durch Island und Indonesien, sieben Monate hat sie in Ecuador mit Straßenkindern gearbeitet. Ihren Mann hat sie allerdings hier im Nachbartal kennengelernt – obwohl er kein Bergler ist. Er heißt Xavier und ist Bretone, zudem studierter Mathematiker und Informatiker, der in Irland, London und Zürich gearbeitet hat – bevor er Bäcker und Patissier im Großen Walsertal wurde. Gemeinsam produzieren Sabine und Xavier Kekse statt Käse. In Bio-Qualität – wie viele hier: Beinahe die Hälfte der Bauern im Tal wirtschaftet biologisch. 


Siedler im rauen Tal

Wir wandern mittlerweile am Fuss von Kellaspitze und Breithorn entlang, von der Sterisalpe Richtung Oberpartnom- und Unterpartnomalpe. An Verpflegung mangelt es nicht. Das war aber nicht immer so. Die Walser, ein Volk, das im frühen 14. Jahrhundert aus dem Oberwallis gen Norden zog, wurden damals nicht gerade freudig begrüßt. Die Grafen von Montfort wiesen ihnen das unattraktive und unwegsame Walsertal zu.

Frei durften die Walser bleiben, allerdings verpflichteten sie sich, die Pässe zu sichern und im Kriegsfall zu verteidigen. So bestellten sie das raue Tal mit seinen steilen Berghängen. Die Sterisalpe, die bereits 1356 urkundlich erwähnt wurde, hat ihren Namen von dem vulgärlateinischen Wort „sterilis“: unfruchtbar. „Die Topografie war für die Besiedelung eine enorme Herausforderung“, erläutert Sabine. „Hier herrschte Urwald, und wer war schon so verrückt, den zu kultivieren?“ Die Walser eben.

Dieses Wilde, Ursprüngliche macht ihnen das Leben auch in unserer Zeit nicht einfach. Doch dafür hat sich hier eine Natur erhalten, wie man sie im Alpenraum nicht mehr oft findet. Das Raue, es ist verantwortlich für einen sanften Tourismus. Das wird uns bewusst beim Gang durch die Legföhren und Vogelbeeren hinauf zum Gipfel des Glattmar (1.930 m) und oben angekommen beim Blick hinüber zum Zitterklapfen und zur Roten Wand. Einsam liegen die Berge da, unverbaut, mit wenigen Hütten. 

Viel Alpe, wenig Trubel – genauso präsentiert sich am nächsten Tag auch das Ende des Tals: über den Buchboden zur Rindereralpe, der Madonaalpe und Gadenalpe. Sie alle liegen im Gadental, eine der Kernzonen des Biosphärenparks. Im Jahr 2016 wurde dieser Walser Winkel schließlich zum „schönsten Platz Vorarlbergs“ gekürt. Vielleicht, so denken wir unterwegs, ist es auch einer der friedlichsten. Dann wartet kurz vor dem Ende noch das alte Kurhaus Bad Rothenbrunnen mit seinem lauschigen Biergarten.

Hier könnten wir unsere Walsertaler Tage ganz getrost entspannt ausklingen lassen – wäre da nicht Fridolin, Sabines 85-jähriger Vater … Der besteht darauf, uns noch ein Seitental zu zeigen. Er will mit uns nach Laguz. Und einem Mann, der 1956 als Erster im Tal die staatliche Skilehrerprüfung ablegte, der in Zermatt den Skirennfahrer und Modemacher Willy Bogner trainierte und in seiner Heimat jeden Winkel kennt, dem folgt man ohne Widerspruch.

So finden wir uns zum Ausklang des Tages statt im Biergarten am Berg wieder – auf der Laguzalpe. Fridolin verstummt. Er will keine Geschichten mehr erzählen, und wir verstehen. Das Große Walsertal, es ist eben von Natur aus ruhig – in jedem Winkel, auf jeder Alpe, in jedem Tobel.