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Foto: Marko Mestrovic
Wilde Schönheit

Ein Grenzgang am Balkan

• 15. April 2019
7 Min. Lesezeit
von Christina Geyer

Im Grenzgebiet von Albanien, Montenegro und dem Kosovo erlebt man Vielfalt in Kultur und Landschaft: Küsten und Berge, Almkäse und Rotwein, wilden Fels und sanfte Wellen. Christina Geyer hat dieses versteckte Paradies am Balkan erkundet.

Die Story ist im Bergwelten Magazin Februar/März 2019 erschienen.

Es sitzt sich gut im Schatten eines Granatapfelbaums. An den Lippen klebt noch etwas Schwarz vom Rotwein, in die Nase steigt der Geruch von geräuchertem Karpfen. In der Ferne umspülen breite Wasserarme sanft begraste Hügel. Grillen zirpen.

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Keine sechzig Kilometer Luftlinie entfernt muss man den Kopf schon bis zum Anschlag in den Nacken legen: Ein Arrangement aus felsigen Säulen strebt dem Himmel beinahe senkrecht entgegen. Bis auf knapp 2.700 Meter strecken sich die verkarsteten Türme, um deren Sockel ein grüner Teppich aus Moos liegt. An den schroffen Wänden hängt das letzte Licht der Sonne.

Es sind landschaftlich zwei Welten, die aber in Montenegro ganz nahe nebeneinanderliegen: Hier die Weite und der See von Karuč, dort die Vertikale und der Fels des Prokletije-Gebirges. Die gesamte Region ist ein Potpourri aus jahrhundertealten kulturellen Einflüssen, römischen und byzantinischen, venezianischen und osmanischen. Und am eindrücklichsten erlebt man diese wilde Mischung, wenn man sie sich erwandert.

Der osmanische Einfluss etwa wird spürbar, sobald man durch die bunten Straßenmärkte von Peja im Kosovo flaniert, wo säckeweise Nüsse und getrocknete Früchte dargeboten werden. Die Tische der kleinen Cafés sind bis auf den letzten Platz von zumeist älteren Herren besetzt, die mit der gelassenen Erhabenheit südländischer Bewohner türkischen Kaffee schlürfen, Karten spielen und – natürlich – das rege Treiben auf den Straßen observieren.

In die Dolomiten Südtirols fühlt man sich hingegen versetzt, wenn man auf die Berge im Grbaja-Tal an der Grenze von Montenegro zu Albanien steigt, wo messerscharfer Fels nahezu kerzengerade in den Himmel schießt. Und nur hundert Kilometer weiter winkt noch einmal italienisches Flair: Fast könnte man glauben, in der Toskana zu sein, wenn man bei mediterranem Klima am Ufer des Skutarisees in Montenegro inmitten von pittoresken Steinhäusern nach der nächsten Fischtaverne Ausschau hält, während sich im Hintergrund die hügelige Landschaft mit ihren weitläufigen Weinbaugebieten abzeichnet.

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Die Autorin auf dem Weg zum Gipfel: Die Hajla – Hausberg von Bergführer Semir Kardović – bietet einige Aussichtslogen ins Prokletije-Gebirge

Grenzen überschreiten

Auch Semir Kardović ist geprägt von dieser Vielfalt. Der 34-Jährige stammt aus Rožaje, einer montenegrinischen Kleinstadt im Vierländereck von Montenegro, Albanien, Serbien und dem Kosovo. Die Nähe zu diesen Ländern mag mitverantwortlich dafür sein, dass Semir sich selbst als „kulturellen Mischling“ bezeichnet – und Grenzen überwinden will. Nicht nur metaphorisch. Denn Semir ist Bergführer und als solcher ständig am Überschreiten von Grenzen. Die Gipfel in der Grenzregion hat er bewusst ins Zentrum seines Portfolios gerückt. In seinen Augen trennen Grenzberge die Länder nicht voneinander, sie halten sie vielmehr zusammen.

Berge, die Länder miteinander verbinden – davon gibt es am Balkan genügend. Das dominierende Gebirge sind die Dinariden. Über eine Strecke von 600 Kilometern ziehen sie sich von Italien über Slowenien bis tief in den Balkan hinein, wo sie mit dem Prokletije-Massiv abschließen. Es ist zugleich auch deren höchster Abschnitt, der in der 2.694 Meter hohen Jezerca in Albanien gipfelt. Gleich vier Nationalparks, zwei Naturreservate und ein Naturdenkmal stellen weite Teile der „verwunschenen Berge“ unter Naturschutz.

Verwunschen? Ja, weiß Semir zu berichten. Unzählige Legenden ranken sich um das Prokletije. Und wie das so ist mit Legenden, sind die meisten von ihnen fantasievoll ausgeschmückte Märchen. Aber von nichts kommt nichts: Wer einst länderübergreifend Handel treiben wollte, musste mit seinen Gütern den beschwerlichen Weg über das Gebirge antreten. Alpine Gefahren aller Art, Wetterumstürze und Unfälle begründeten den Mythos der verfluchten Berge, die manch einen reisenden Händler für immer verschwinden ließen.

Verwunschen sieht die Hajla wirklich nicht aus, ja nicht einmal wie ein Berg im klassischen Sinne. Sie bildet nicht das übliche Dreieck, dessen Seiten einander in Pyramidenform zustreben, sondern präsentiert sich von montenegrinischer Seite aus als breite Mauer. Von ihrem Gipfel, so scheint es, überblickt man bei guter Sicht nahezu den gesamten Balkan – und einige seiner höchsten Berge: die Jezerca in Albanien, die Zla Kolata (2.534 m) an der Grenze von Albanien und Montenegro und die Gjeravica (2.656 m) im Kosovo.

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Das ist ganz einfach „amazing“, staunt Semir. Er staunt immer wieder, immer noch. Und das, obwohl die Hajla sein Hausberg ist. Fragt man ihn, wie oft er schon auf ihrem Gipfel gestanden hat, lacht er nur. „Noch nicht oft genug!“ Was die Hajla so besonders macht, ist ihre exponierte Lage. Sie ist vom Rest des Gebirges abgetrennt und erschließt daher einen der schönsten Blicke über das Prokletije überhaupt.

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Der Hajla zu Füßen liegt das beschauliche Hundert-Seelen-Almdorf Bandžov. Rund dreizehn abenteuerliche Straßenkilometer von Semirs Heimatstadt entfernt findet man sich im montenegrinischen Entwurf eines Almidylls wieder. Wie hingewürfelt stehen einige Steinhäuser auf der Hochebene, dazwischen ein paar alte Holzhäuser und geradezu imposant anmutende zweistöckige Gebäude aus hellem Holz. Das Bimmeln von Kuhglocken gesellt sich zum Zirpen der Grillen, wilde Minze wuchert neben Hagebuttensträuchern und Zwetschkenbäumen.

Fünfzehn Familien leben im Sommer in Bandžov, mit dem ersten Schnee ziehen sie samt Vieh wieder talwärts. Zu ihnen zählen Nikqi und Fatima Skender. Sie betreiben das einzige Gästehaus des Ortes. Ob und wie viele Gäste sich zu den Skenders verirren, hängt nicht zuletzt vom Zustand der Straße ab. Nicht immer sei sie befahrbar, erzählt Fatima, während sie am Herd steht und mit großen dampfenden Töpfen hantiert.

Die Leidenschaft für reichlich gute Kost ist ohne Zweifel der Herzschrittmacher des Balkans, der das Leben in die Adern der Region pumpt. Als Erstes wird man hier nicht gefragt, wie es einem geht, sondern was man essen möchte. Und kredenzt wird nicht nur reichlich, sondern zuverlässig viel zu viel.

Nach und nach trägt Fatima große Platten auf. Sirnica – die mit Käse gefüllte bosnische Spielart der Pita –, saure Milch, Paprika in Rahmsauce, Kaymak – eine Art Milchrahm, der sich auf köchelnder Milch absetzt und dann abgeschöpft wird –, eingelegter Paprika mit Knoblauch und Käse. Harter Käse. Weicher Käse. Junger Käse. Alter Käse. Gesalzener und ungesalzener Käse. Es ist das All-you-can-Milk des Balkans, versammelt auf Fatimas Tellern.

Die Fische der Taverne von Slobo Jovićević kommen aus dem Skutarisee

Urlaubs-Schlendrian

Man muss jedoch nicht die 1.000-Meter-Marke überschreiten, um satt zu werden. Und satt essen sollte man sich am Balkan. Andernfalls hat man ihn nicht richtig erlebt. Auch auf Meeresniveau gedeiht die Liebe zum Essen am Balkan prächtig. Am Skutarisee etwa, dem größten See der Balkanhalbinsel, durch den die Grenze von Albanien und Montenegro verläuft. Er ist der mediterrane Gegenentwurf zum wilden Prokletije – und damit eine weitere Einladung, die Vielfalt am Balkan zu erleben. Nicht zuletzt erholen sich müde Füße famos in offenen Schlapfen. Oder noch direkter: Man hat sich nach dem Wandern einen Urlaubsschlendrian verdient.

Frühmorgens hört man das dumpfe Geräusch eines Paddels, das an einem Holzboot entlangscheuert. Es gehört Slobo Jovićević, einem 67-jährigen Fischer, der im beschaulichen Dorf Karuč an den nördlichen Ausläufern des Sees ein kleines Fischrestaurant betreibt. Im ersten Morgenrot zeichnen sich am Horizont die Umrisse der sanften Rumija-Hügel ab, einem Gebirgszug der Dinariden. Slobos Nussschale gleitet vorbei an einem Teppich aus gelben Lotosblumen. Das typische Krächzen eines Blässhuhns ertönt aus der Ferne, Wasserflöhe huschen über den spiegelglatten See.

„Man muss den See und seine Fische kennen“, sagt Slobo. Er ist überzeugt von der heilenden Wirkung des Fischens. Ob bei Stress oder Kopfschmerzen: Fischen hilft immer. Er holt das erste Netz ein. Treffer! Darin ein Döbel; er gehört zur Familie der Karpfenfische. Der qualitativ beste Fisch aus dem Skutarisee, wie Slobo weiß. Insgesamt fünf Netze holt er an diesem Morgen ein und mit ihnen fünf verschiedene Fischarten.

Granatapfel- und Feigenbäume säumen den grobsteinigen Pfad hinein nach Karuč. Die rustikalen Steinhäuschen des Dorfs kann man an einer Hand abzählen. Slobos Taverne liegt am See, er kann mit seiner Nussschale direkt anlegen. Im Uferbereich wuchert Schilf. Irgendwo dazwischen, an den Mauerresten eines Steinhäuschens, säubert er den frischen Fang. Fischschuppen wirbeln durch die Luft. Zwei Katzen betteln raunzend um die Innereien. „Ssss!“, zischt Slobos Frau Milanka, um die schreienden Tiere zu vertreiben. Dann verschwindet sie wieder in die Küche, aus der man den Fisch im heißen Öl brutzeln hört wie prasselnder Regen auf einem Wellblechdach.

Abgesehen vom Bier ist in der Taverne des Ehepaars Jovićević alles selbst gemacht: vom Granatapfelsaft bis hin zum Brot. Und – natürlich: der Fisch. Ob getrockneter Karpfen, Forelle oder gebackener Aal mit Pflaumen: Auswahl haben Slobo und Milanka ausreichend. 48 Fischarten sind im Skutarisee heimisch. Slobos Spezialität, deretwegen sogar Scheiche aus Jordanien anreisen – wie er nicht ohne Stolz erzählt –, ist jedoch der Karpfen. In einer Trockenkammer wird der Fisch dreißig Stunden lang im sanften Rauch einer glimmenden Trauerweide geräuchert. Die richtige Dauer ist entscheidend, denn das Fleisch darf nicht zu trocken werden – der Karpfen soll das kräftige Aroma des Holzrauchs annehmen, dabei aber unbedingt saftig bleiben. Fertig geräuchert kommt er für weitere fünf Stunden in den Ofen, ehe er schließlich ein letztes Bad nehmen darf: in einer Marinade aus Weißwein und Blättern der Trauerweide.

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Vom Fisch an die Rebe

Apropos Wein. Auch davon gibt es rund um den Skutarisee genügend. Von der schmalen und oft nur einspurig befahrbaren Zubringerstraße zwischen Podgorica und Cetinje zweigen überall kleine Wege zu Weingütern ab. Wenige Kilometer landeinwärts, nördlich von Karuč, betreibt das Ehepaar Pavle und Zorka Jablan das gleichnamige Weingut. Seit 120 Jahren befindet es sich schon in Familienbesitz. An den Reben hängen vereinzelt noch dicke rote Trauben, mittendrin stehen zwei Holzbänke und ein Tisch. Ein weißes Segel spendet Schatten. Pavle und Zorka stellen ihren Wein noch auf traditionelle Art her, das heißt, sie verzichten zur Gänze auf Herbizide und Pestizide sowie sonstige industrielle Hilfsmittel. Das dauert zwar länger, sagt Zorka, dafür schmeckt der Wein aber auch besser. 200 Sonnentage im Jahr sorgen für einen hohen Zuckergehalt der Trauben – und damit für richtig guten Wein, strahlt Zorka mit der stillen Freude eines tibetischen Mönchs.

Das Besondere am montenegrinischen Wein ist seine Stärke. Nicht umsonst wird er „crno vino“ genannt: schwarzer Wein. Und obwohl unter Pavles Nägeln noch der schwarze Saft der Trauben klebt, gesteht er verschmitzt lächelnd, dass seine eigentliche Leidenschaft dem Imkern gilt. Neben Wein stellt das Ehepaar Jablan nämlich auch Honig und Schnaps her. Fragt man Pavle nach seinem Lieblingsschnaps, muss er nicht lange überlegen: der Met natürlich, der Honigwein. Pavle ist sicher: „Met ist Medizin!“

Und während Pavle wie zum Beweis beherzt sein Glas leert, mag Slobo, der Fischer, wohl gerade wieder seine Netze ausbringen und Semir, der Bergführer, irgendwo in einem weiteren Almdorf einkehren.

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