Regisseur Jimmy Chin über „Free Solo“
In den USA gehört er zu den Fixsternen der Kletterszene, seit Kurzem auch zur Riege der Hollywoodstars: Fotograf und Regisseur Jimmy Chin über seinen, nunmehr Oscar-gekrönten, Film „Free Solo“ (bester Dokumentarfilm), und wie die Berge ihn selbst und seine Arbeit geprägt haben. Das Interview ist (kurz vor der Oscar-Verleihung, Anm.) im Bergwelten Magazin Dezember/Januar 2018/19 erschienen.
Text: Peter Flax
Jimmy Chin ist in den Bergen zu Hause. Zum einen wortwörtlich, denn der 45-jährige Kletterer und Fotograf lebt zwischen den wilden Gipfeln von Jackson Hole im Bundesstaat Wyoming. Zum anderen hat er sein gesamtes Berufsleben zwischen Fels und Eis verbracht und danach gestrebt, die Seele des Abenteuers in Bildern festzuhalten. Er hat Expeditionen im Himalaya, in den Anden und in Afrika geleitet und als einer von wenigen Menschen den Everest mit Skiern befahren. Seine Fotografien zieren zahlreiche Titelbilder renommierter Magazine, und seit einiger Zeit versucht er sich auch als Filmemacher. Seine 2015 erschienene Do- kumentation „Meru“ über eine vermeintlich unbezwingbare Route im indischen Himalaya wurde vom Publikum gefeiert. Chins aktueller Film „Free Solo“, den er mit seiner Frau Elizabeth Chai Vasarhelyi gedreht hat, dokumentiert Alex Honnolds seilfreie Besteigung der 1.000-Meter-Wand des El Capitan in Kaliforniens Yosemite Valley.
Bergwelten: Ihr Film „Free Solo“ gilt bereits als potenzieller Oscar- Kandidat. Wie fühlt sich das an, wenn ein Kletterfilm über die Szene hinaus plötzlich so erfolgreich ist?
Jimmy Chin: Wir haben „Free Solo“ von Anfang an nicht als klassischen Kletterfilm betrachtet. Unser Ziel war, eine großartige Geschichte zu erzählen und einen außergewöhnlichen Protagonisten mit emotionaler Tiefe zu porträtieren. Ich bin sehr dankbar, dass uns Alex für seine Geschichte vertraut hat und dass jeder, der an dem Film beteiligt war, so viel Herzblut hineingesteckt hat. Und natürlich freuen wir uns sehr darüber, dass er so gut ankommt.
Was war die größte Herausforderung, die Leistung von Alex am El Capitan auf Film festzuhalten?
Die Filmcrew hatte zwei Hauptanliegen: Alex’ Sicherheit und sein Erlebnis nicht zu beeinträchtigen. Ich bin sehr stolz, dass Alex mich oben anschaute und sagte: „Das war genau das, was ich erleben wollte.“ Wir wollten Klettern in einer Art dokumentieren, die cineastisch und ästhetisch ist. Während Alex über zwei Jahre für seine ultimative Route trainierte, trainierte mein Team, das aus Top-Kletterern wie Mikey Schaefer und Cheyne Lempe bestand, für den ultimativen Shoot. Die Produktionscrew hatte auf den Punkt zu funktionieren, und das Ergebnis musste dem hohen Anspruch der Kletter-Community standhalten. Wir wollten die Steilheit hautnah zeigen, damit man die Schwierigkeit verstehen und mitfühlen kann.
Wie ist es für Sie heute, mitanzusehen, wie Alex die Schlüsselstelle der Route bezwingt, eine Sequenz aus zehn hochkomplexen Bewegungen, 550 Meter über dem Boden des Yosemite Valley ohne Sicherung?
Es macht mich immer noch sprachlos. Dieser Moment verkörpert so viele moralische Fragen, die im Film gestellt werden. Und es war die einzige Stelle, bei der Alex zunächst keine Kamera um sich wollte. Wir haben viel diskutiert, ob jemand ihn dort filmen sollte, wer und wo das sein könnte. Wir hatten Angst, dass es Alex ablenken und ihn in Lebensgefahr bringen würde. Alex hat sich dann doch dafür entschieden, einen etwas weiter entfernten Kameramann dabeihaben zu wollen. Wenn ich das auf der Leinwand sehe, fühlt es sich so richtig an, weil wir es genau so gefilmt haben, wie wir es wollten. Die Zuschauer im Kino haut es um – es ist ein großer Moment, der alle Diskussionen und den Stress am Ende wert war.
Sie kennen auch den Mount Everest und haben dort harte Routen gemeistert. Warum misst die Öffentlichkeit diesem Berg so eine Bedeutung bei und nimmt ihn als Gradmesser für die Fähigkeiten eines Kletterers?
Der Everest erzeugt eine Massenfaszination, weil er einfach zu verstehen ist: Er ist schlichtweg der Höchste. Ich bin schon in Versuchung gekommen, Menschen deswegen abzuurteilen. Aber dann denke ich an andere Sportarten, bei denen ich nicht so involviert bin und wohl auch ständig Fehleinschätzungen treffe. Deswegen sollte man Leuten keinen Vorwurf machen, wenn sie die Nuancen nicht bis ins Detail verstehen. Es gibt so viele Facetten unseres Sports, und ich glaube, dass die breite Masse das jetzt langsam zu begreifen beginnt.
Ihr erster Film, „Meru“, handelt vom Big-Wall-Klettern in großer Höhe im indischen Himalaya. Können Sie erklären, was den Film und den Berg so besonders macht?
Es gibt wesentlich mehr Menschen, die den 8.848 Meter hohen Everest besteigen können, als den Meru mit seinen 6.660 Metern. Der Meru ist technisch sehr, sehr viel anspruchsvoller. Er erfordert das höchste Niveau in verschiedenen Disziplinen: Eis- und Felsklettern, Big-Wall-Klettern und Höhenbergsteigen. Darum verkörpert der Meru die ultimative Tour, auf der Höchstleistungen gefordert sind und wo man nicht einmal bis zur Hälfte raufkommen würde, ohne alle Disziplinen zu beherrschen.
Gibt es noch andere Routen, die ähnlich schwierig sind und die Sie gerne machen würden?
Da gibt es noch Dutzende! Ich möchte gerne die Trango-Türme, den Shivling oder den Nordgrat des Latok I klettern. Im Garhwal-Himalaya, wo auch der Meru liegt, warten überall Routen, die extrem hart sind.
Die Liebe zu den Bergen und die Leidenschaft, Bilder zu kreieren, zieht sich durch Ihr gesamtes Leben. Wäre Ihre Karriere ohne die Berge möglich gewesen?
Ich liebe es, Dinge zu erschaffen. Ich liebe es, Geschichten zu erzählen. Und ich liebe das Handwerk hinter all den Aspekten meines Lebens und meines Berufs. Viel meiner Inspiration kommt aus den Bergen. Ich fange zwar an, mich etwas davon forttreiben zu lassen, weil ich mich schon lange im alpinen Umfeld bewege und mich auch andere Geschichten reizen. Aber ich werde immer in die Berge zurückkehren. Das ist der Ort, der mich erdet und an dem ich Ideen finde, aber auch Momente der Leere. Es ist wie eine Therapie, da rauszugehen. Es hält mich jung.
Großes Bergkino
„Free Solo“ wurde mit dem Oscar für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. Hier findet ihr ein paar der schönsten Fotos von Jimmy Chin.
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In Plastikschuhen am Everest