Simon Messner: Dieser eine Moment
Foto: Archiv Simon Messner
In der Bergwelten-Kolumne erzählt Simon Messner von seinem Leben als Alpinist. Diesmal: Wie die Solo-Besteigung eines Eisfalls ein großes emotionales Durcheinander in ihm auslöste.
Der Moment, als ich realisierte, was genau ich eigentlich getan hatte, kam mit Verzögerung. Ich saß auf dem Balkon unserer kleinen Mietwohnung in Innsbruck während das zum Teil noch gefrorene Eisklettermaterial in der Sonne vor sich hin taute. Für eine kurze Zeit schloss ich meine Augen. Nie zuvor hatte ich die Wärme der Sonne so intensiv gespürt! Dazu war ich dankbar und erleichtert: Hier zu sitzen empfand ich als ein Geschenk. Auf eine sehr besondere Art fühlte sich alles um mich herum ungemein leicht an.
Aber gehen wir einige Stunden zurück, an den Morgen des 28. Februar 2022: Dieser Tag war ein Montag und deshalb hatte kurzfristig keiner meiner Freunde Zeit. Es würde ein sonniger Tag werden, ich konnte also keinesfalls in der Wohnung sitzen bleiben – das stand für mich außer Frage. Eine unsichtbare Kraft drängte mich nach draußen, ich wollte und musste mich bewegen. Aber was könnte ich alleine unternehmen?
Nach einigem Hin und Her dann die Eingebung: die Eisfälle im Stubaital, die Pinnisalm!
Doch mein Vorhaben musste vorerst ein Geheimnis bleiben. Denn nur so – das hatte ich gelernt – konnte ich vor Ort gänzlich frei entscheiden und nur dann einsteigen, wenn es sich auch gänzlich gut anfühlt. Ich durfte mir also auf keinen Fall zusätzlichen Druck machen, denn dann wäre das Soloklettern nicht zu verantworten.
Während sich meine Partnerin Anna für einen Tag in der Arbeit fertigmachte, fellte ich meine Tourenski auf, packte Steigeisen, Eispickel, eine 60-Meter Reepschnur sowie zwei Eisschrauben in einen Rucksack und fuhr – nach einem innigen Abschiedskuss – Richtung Stubaital. Normalerweise hätte ich nervös werden müssen angesichts der Linie, die sich vor meinem inneren Auge immer mehr konkretisierte. Doch heute war es anders, ganz anders als bei derartigen Vorhaben zuvor. Ich verspürte keine Unruhe in mir, keinerlei Nervosität. Ich freute mich lediglich auf das, was kommen würde, war neugierig auf das, was ich noch nicht erlebt hatte. Mein Vorsatz dabei: mal hin gehen und schauen, wie die Bedingungen sind. Ich wollte vor Ort entscheiden. Im „schlimmsten“ Fall hätte ich eine Skitour gemacht, im besten Fall würde ich mir einen kleinen Wunschtraum erfüllen. Mit dieser Einstellung, die mir alle Optionen offenhielt, konnte ich im Grunde nur gewinnen.
Freude auf das Unbekannte
Etwa zwei Stunden benötigte ich für den Zustieg zum Eiskletter-Eldorado der Pinnisalm: Unter den Mixed- und Eislinien gibt es einige Klassiker, die vom Tiroler Eiskletterpionier Andi Orgler in den 1980er- und 90er-Jahren erstbegangen wurden. Manche wurden seitdem nur einmal, andere auch nur ein paar Mal wiederholt. Dazu zählt die Linie „Land am Strome“: 1991 haben sie Andi Orgler und Raimund Haas eröffnet und mit dem für die damalige Zeit futuristisch anmutenden Schwierigkeitsgrad M7-/ WI7- bewertet. Heute gilt diese Route als Testpiece für hartgesottene Mixed- und Eiskletterer.
In Winter 2022 sah es so aus, als könnte die gesamte Linie rein im Eis geklettert werden: zuerst senkrecht und röhrig, dann über eine dünne Eisglasur unter das Dach und schließlich über einen mächtigen, freihängenden Eiszapfen in leichteres Gelände. Als ich davorstand, musste ich meinen Kopf weit in den Nacken legen: was für eine Linie! Nur der Eiszapfen war mir etwas ungeheuerlich – denn frei hängendes Eis gilt generell als schwer berechenbar.
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Ich entschied mich schließlich einzusteigen und musste schon eine ganze Weile geklettert sein, da bemerkte ich – beinahe überrascht, so sehr war ich konzentriert gewesen – den mächtigen Eiszapfen zu meiner Rechten. Es war der einzige Augenblick, der mich kurz innehalten und zögern ließ. Der Flow, mein Rhythmus wurde flüchtig unterbrochen. „Ruhig, nur keine ruckartigen Bewegungen“ sagte ich zu mir selbst wie bei einem Mantra.
Die hier unter dem Felsdach nur wenige Zentimeter dünne Eisauflage gefiel mir nicht. Abklettern war für mich keine Option. Schließlich fand ich eine Stelle, an der die Haue eines Eisgeräts weit genug eindrang, um mir ein seichtes Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Also spreizte ich weit aus und begann mit dem anderen Eisgerät so sachte wie möglich in das dumpf klingende Eis des Zapfens zu klopfen. Behutsam, sehr behutsam verlagerte ich mein Gewicht – und der Eiszapfen hielt!
Betäubt vom Triumph
Nach einer weiteren und deutlich leichteren Länge hatte ich es geschafft und stieg oben aus. Doch von Euphorie oder gar Stolz war nichts in mir zu spüren. Ich fühlte mich weder zufrieden, noch war ich unzufrieden. Ich empfand mich und mein Handeln als ungewöhnlich neutral und sogar als gefühllos.
Hatte ich zu viel riskiert? War ich zu weit gegangen? Was war mit mir los?
Das Taubheitsgefühl begleitete mich, während ich abseilte, während der Abfahrt mit den Skiern und sogar noch als ich nach Innsbruck fuhr. In mir herrschte ein großes Durcheinander unterdrückter Gefühle, das so lange anhielt, bis ich auf unserem sonnigen Balkon für wenige Sekunden meine Augen schloss. Vielleicht war es die Wärme der Sonne gewesen, die jene imaginäre Hülle aus Eis um mich herum hat schmelzen lassen. Jedenfalls hoben sich alle meine Zweifel in diesem einen Moment auf, alle Sorgen waren plötzlich verflogen, ich fühlte mich so frei wie selten zuvor: Wie unbeschreiblich schön das Leben doch war!
Mit Simon Messner auf einen 4.000er
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Seit Anfang 2022 lest ihr auf bergwelten.com regelmäßig Simons Kolumne. Einmal im Monat erzählt er Geschichten aus seinem Leben als Alpinist und setzt sich mit den großen Themen des Bergsports auseinander. Seine bisherigen Beiträge könnt ihr hier nachlesen: