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Reise

Wandern im Süden Marokkos

• 29. Dezember 2017
6 Min. Lesezeit

Marokko, nah genug für ein verlängertes Wochenende und weit genug, um ein ganz anderes Leben kennenzulernen. Wer dem Winter entfliehen will, muss bei Taroudant in den Antiatlas abbiegen. Eine Wanderung durch die alte Heimat der Berber.

Text: Markus Huber, Fotos: Andreas Jakwerth

Wir sind in einer Schlucht am Ende der Welt, das Auto haben wir in der kleinen Siedlung Assads abgestellt, sind zuerst eine steile Schotterpiste hinaufgerannt und haben dann ein Bachbett durchquert. Jetzt stehen wir auf einem Hang, auf einem schmalen Pfad, den irgendwer vor vielen Jahren dem Berg abgetrotzt hat: Warum das jemand getan hat, erschließt sich auf den ersten Blick nicht wirklich, denn hier ist nichts außer Gegend und Felsen und Bergen.

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Unter uns liegt das Wadi, das Bachbett. Rechts und links ziehen sich rote Felswände steil nach oben, bis sie in ein Hochplateau übergehen. Hier könnte jederzeit Lex Barker in seiner Rolle als Kara Ben Nemsi um die Ecke biegen oder – noch wahrscheinlicher – von den Plateaurändern aus ins Kreuzfeuer genommen werden. Wird er aber nicht, denn das hier ist weder eine Karl-May-Verfilmung noch das wilde Kurdistan, sondern der Süden von Marokko. Unser Führer ist auch nicht Hadschi Halef Omar, der Weise aus Dschunet in Algerien, sondern David Scholl, der Physiotherapeut aus Mühlheim in Deutschland, der vor vielen Jahren zum Surfen gekommen ist und als Wanderguide für die ASI (Alpinschule Innsbruck) geblieben ist.

Schluchten-Baden im Antiatlas

„Eigentlich ist das ein ziemlich belebter Weg“, sagt David jetzt. „Für die Berber, die am Ende der Schlucht und vor allem am Plateau da oben wohnen, ist es die einzige Verbindungsstraße zur Welt.“ Hier im Nirgendwo soll irgendwer wohnen? Absolut unwahrscheinlich, schließlich gibt es eben weder eine Straße noch eine Stromleitung, zumindest Letzteres ist so etwas wie die Mindestanforderung für Zivilisation. Der Weg zieht sich weiter, es wird grüner und grüner, eine Oase taucht auf, und dann sehen wir auch schon tatsächlich Häuser.

Der Antiatlas: Eine Landschaft zwischen Wadis und Oasen

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Arabische Gärten und Basare

Marokko – in den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Land zu einem erstklassigen Reiseziel entwickelt. Es ist nah genug an Europa, dass sich die Flugzeit in Grenzen hält und sich die Anreise auch für ein verlängertes Wochenende lohnt. Es ist aber weit genug entfernt, dass das Leben doch so ganz anders ist als in Europa.

Casablanca, Rabat, Fes – und natürlich Marrakesch, das Weltkulturerbe am Fuß des Hohen Atlas. Die Stadt mit der markanten Silhouette der schneebedeckten Gipfel ist die erste Anlaufstelle, wenn man Kasbahs und Suks, arabische Gärten und Basare, erleben will.

Von Marrakesch sind es rund vier Stunden bis hierher, zum Ende der Welt. Es geht bis Taroudant, einem Provinzstädtchen, das aussieht wie Marrakesch im Kleinen, aber ohne Stress. Hinter Taroudant geht es nicht nach links in den Hohen Atlas, sondern nach rechts.

Reise Marokko
Foto: Andreas Jakwerth
Taroudant liegt genau zwischen dem Hohen Atlas und dem Antiatlas und ist weitaus ursprünglicher als die Millionenstadt Marrakesch

Das hat zwei entscheidende Vorteile: Weil alle Bergsteiger- und Trekking-Touristen bei Taroudant links abbiegen, ist es auf der anderen Seite der Souss-Ebene, im Antiatlas, ziemlich ursprünglich und weitestgehend untouristisch geblieben. Und während es im Atlas mit seinen über 4.000 Meter hohen Gipfeln bis weit in das Frühjahr Schnee gibt, ist es im Antiatlas das ganze Jahr über schneefrei. Wer dem Winter entfliehen will, sollte bei Taroudant also nicht links abbiegen, sonst hätte er sich den Flug auch sparen können.

Genau deswegen hat uns David hierhergeführt, in die Schlucht, die von Assads weg in den Antiatlas führt. Hier könne man das wahre Marokko sehen, hatte er uns zuvor gesagt – und wenn das stimmt, dann ist Marokko bei weitem weniger gebirgig als gedacht.

In großen Stufen ziehen sich die Terrassen vom Hang hinab bis zum Fluss, und dass der an manchen Stellen ausgetrocknet ist, macht gar nichts: Hoch über dem Wadi haben die Bewohner an beide Seiten des Hanges ein Bewässerungssystem gebaut, das sich aus der Quelle der Oase am Ende der Schlucht speist. Wie zwei etwas größere Regenrinnen laufen die beiden Kanäle durch die Schlucht. Auf unserem Weg zur Quelle gehen wir oft entlang des Kanals, nur an manchen Stellen geht das nicht: Da führen die Kanäle nämlich direkt durch die Häuser. „Die Menschen hier haben zwar keinen Strom, aber immerhin fließendes Wasser“, sagt David. „Das ist vielleicht sogar wichtiger.“

Obwohl der Hohe Atlas und der Antiatlas an dieser Stelle gerade einmal ein paar Kilometer Luftlinie voneinander entfernt sind, haben die beiden Gebirge geologisch nichts miteinander zu tun. Der Antiatlas gehört zur Afrikanischen Platte, er ist naturgeschichtlich deutlich älter. Über weite Strecken ist er ein rund 1.800 Meter hohes Plateau, das vereinzelt auf 2.500 Meter hohe Gipfel ansteigt.

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Gebirgslandschaft des Antiatlas

Der Wächter des alten Speichers

Der Antiatlas ist die Heimat der Chleuh-Berber. Sie leben seit Jahrhunderten hier, und besonders leicht war das wohl nie. Auf den kargen Böden des Antiatlas wächst wenig: Thymian, Rosmarin und wenige andere anspruchslose Pflanzen wie die Arganbäume mit ihren eigenartigen Beeren und den Kernen, aus denen man das berühmte Arganöl gewinnen kann. Dabei hüpfen Ziegen auf die Bäume, fressen die Beeren, und aus den Nüssen, die sie danach ausscheiden, kann man das Öl pressen. Nur vereinzelt ziehen Wadis, Bachbette, durch den Antiatlas, die meiste Zeit des Jahres sind sie ausgetrocknet, nur im Frühjahr führen sie Wasser.

Das ergibt nicht nur dieses an Wüsten erinnernde charakteristische Landschaftsbild, sondern führt auch zum größten Problem der Gegend. Hier wächst nichts, deswegen ziehen viele junge Menschen in die größeren Städte im Norden. Oder nach Europa. Zurück bleiben alte Menschen, verfallene Terrassenfelder und die sogenannten Agadire, steinerne Zeugen einer großen Vergangenheit. Und genau auf so einem Agadir steht Marko Mohammad und ruft nach seiner Frau.

Marko Mohammad ist 68 Jahre alt, und er sieht wirklich keinen Tag jünger aus, was vielleicht auch daran liegt, dass er kaum noch Zähne im Mund hat. Seine Haut ist von der Sonne gegerbt, er trägt einen weißen Kaftan, als Sonnenschutz hat er sich einen weißen Cowboyhut aufgesetzt. Seit er denken kann, bewacht er diesen Agadir namens Inoumar hoch über dem Dorf Tassegdelt am meistens trockenen Wadi Oussaka. Vor ihm hat das sein Vater getan, vor seinem Vater dessen Vater und davor dessen Vater. Wer davor den Agadir bewacht hat, weiß Marko nicht, gut möglich, dass es sein Ururgroßvater war.

Wächter und Speicherbrunnen

Inoumar ist ein ganz besonders schön erhaltenes Exemplar dieser marokkanischen Speicherburgen. Sie wurden ursprünglich von den Berbern errichtet, um darin ihren Besitz – vor allem Getreide und anderes von Wert – darin zu bunkern und gegen Angreifer zu verteidigen. Er ist übrigens der größte im ganzen Antiatlas: 14 Siedlungen bewahrten hier ihre Habseligkeiten auf, in seiner Hochzeit gab es deswegen 600 Speicherkammern, in drei Etagen übereinander errichtet.

Früher, sagt Marko, hätten seine Frau, die drei Kinder und er hier sogar gewohnt. Seit einigen Jahren hätten sie aber unten im Dorf ein Haus. Doch nach wie vor ist er täglich im Agadir, er hat hier auch einen Rückzugsraum samt Küche, und als wir diese betreten, riecht es bereits nach einer Tajine, dem marokkanischen Nationalgericht, in dem unterschiedliche Gemüse und Fleisch so lange geschmort werden, bis auch Vegetarier Probleme damit haben, Gemüse und Fleisch auseinanderzuhalten.

Wie alle in den Dörfern des Antiatlas sind auch Marko Mohammad und seine Frau Berber. Knapp ein Drittel der Marokkaner, also zehn Millionen Menschen, gehören dieser Volksgruppe an. Die Berber leben schon seit mehreren tausend Jahren in der Region, weitaus länger als alle anderen Bewohner der Region.

Reise Marokko
Foto: Andreas Jakwerth
Landestypische Mahlzeit: Tajine mit Huhn

Die Berber haben ihre eigene Sprache, ihre eigene Kultur, und selbst wenn der Islam mittlerweile die Religion der Berber ist, haben sie den Geisterglauben ihrer Vorfahren nie ganz aus der Religion gepresst, sondern ihre Abart des Islam damit angereichert.

Immer wieder einmal hatten sie in den vergangenen Jahrhunderten ihren eigenen Staat, meistens wurden sie aber von anderen Völkern beherrscht. Auch im modernen Marokko wurden sie lange Jahre unterdrückt, erst seit 2011 ist ihre Sprache neben Arabisch offizielle Landessprache.

Amazigh – Freie Menschen

Die Berber selbst nennen sich übrigens „Amazigh“, übersetzt bedeutet das „freie Menschen“, und wenn man ein paar Tage in der Berber-Region verbringt, merkt man, dass das vor allem für die Frauen gilt: Anders als ihre arabischen Landsleute sind Berberfrauen oft unverschleiert unterwegs, sogar in den ländlichen Regionen des Antiatlas.

Berberfrauen können ihre Ehemänner frei wählen, und in den Familien haben meistens die Frauen das Sagen. Das dürfte übrigens auch bei Marko Mohammad und seiner Frau gelten: Als sich David verabschiedet und ihm ein paar Dirham-Scheine, die lokale Währung, als Gastgeschenk überreichen will, schickt ihn Marco zu seiner Frau. Er selbst hat bereits seine Vorräte aus dem Kaftan geholt und begonnen, seine Pfeife zu stopfen. Manche der Marokko-Klischees sind also doch nicht ganz falsch.

Zurück im Assads-Tal, auf dem Weg zur Quelle der Oase. Je weiter wir unter den Bäumen durchwandern, desto häufiger treffen wir Menschen. Sie sind allein unterwegs oder in kleinen Gruppen, und die meisten von ihnen führen ein Maultier am Strick. Überhaupt, Maultiere: Bei jedem Haus, an dem wir vorbeilaufen, ist eines dieser genügsamen Tiere angeleint. Offenbar gibt es keine andere Möglichkeit, schwere Lasten von und zu den Häusern zu bringen, die Maultiere sind die Kombis der Menschen in dieser Gegend, von denen es übrigens doch sehr viel mehr gibt, als wir denken.

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Foto: Andreas Jakwerth
Ein typisches Bild für Marokko: Ziegen klettern auf Arganbäumen herum

Immer wieder begegnen wir Menschen, sie grüßen uns, sind freundlich, wollen wissen, wo wir herkommen; wo wir hinwollen, ist, so scheint’s, offensichtlich. Und je mehr Menschen wir begegnen, desto unwohler fühlen wir uns in unseren Trekking-Outfits, weil sie nämlich eines anzeigen: Wir müssen nicht gehen, sondern wir wollen das. In einer Gegend wie dieser ist das der größtmögliche Unterschied, den man sich vorstellen kann.

Infos und Adressen: Antiatlas, Marokko

  • Die Story erschien im Bergwelten Magazin (Dezember/Jänner 2016/17). Hier geht's zum Abo.

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