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Bergsportlerinnen Nazima und Nazira Khairzad im Interview

„Die Taliban wissen, wie stark wir sind"

• 14. Oktober 2023
8 Min. Lesezeit

Die Taliban zwangen die afghanischen Bergsportlerinnen und Schwestern Nazima und Nazira Khairzad zur Flucht. Im Interview sprechen sie vom Freiheitsgefühl, einen Fünftausender zu besteigen, und der Herausforderung, Frau in Afghanistan zu sein.

Das Interview ist im aktuellen Bergwelten-Magazin (Oktober/November 2023) erschienen. Geführt hat es Teseo La Marca.

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Foto: Privat, Getty Images
Nazima und Nazira sind afghanische Bergsportlerinnen und Schwestern.
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Höchster Gipfel in Afghanistan ist mit 7.492 Metern der Noshak an der Grenze zu Pakistan. Im August 2018 blickte die erste Afghanin von dort auf ihr Land hinunter. Ihr Name: Hanifa Yousoufi. Etwa zur gleichen Zeit begannen auch die Schwestern Na­zima, 21, und Nazira Khairzad, 19, in den Bergen der zentralafghanischen Provinz Bamyan mit dem Ski­fahren und Bergsteigen. Im Frühjahr 2021 bestieg Nazima Khairzad als erste afghanische Frau den Shah Fuladi (5.065 m), Zentralafghanistans höchs­ten Berg. Nur wenige Monate später eroberten die Taliban das ganze Land.

Die Flucht aus Afghanistan war chaotisch und trennte die beiden Schwestern von ihrer Familie und voneinander. Nazira schaffte es in ein Flugzeug nach Italien, Nazima brachte sich zunächst in Pakis­tan in Sicherheit, heute lebt sie in Deutschland. In ihrem Heimatland gehörten die beiden Schwestern zu einer neuen Generation aufstrebender Alpinis­tinnen, die mit ihrer Leidenschaft ein ganzes Ge­sellschaftssystem in Frage stellten.

Bergwelten: In Europa verbinden wir die Berge mit Freizeit und Erholung. Was bedeuten sie für die Men­schen in Afghanistan?

Nazima: Es ist komplett umgekehrt. Berge stehen in Afghanistan für Not und Lebensgefahr. Man mei­det sie und bleibt im Tal oder, noch besser, in der Stadt. Vor allem in meiner Heimatregion Bamyan erinnern sich noch viele Menschen daran, wie sie während der ersten Taliban­-Herrschaft vor zwan­zig Jahren in die Berge geflüchtet sind. Auch jetzt verstecken sich wieder Tausende in den Bergen.

Und was verbindet ihr mit den Bergen?

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Nazira: Mir haben die Berge die Möglichkeit ge­geben, das Skifahren zu lernen und mich frei zu fühlen.

Nazima: Wenn ich auf einem Gipfel stehe, fühle ich mich wirkmächtig, stark, lebendig. Als wäre ich eine andere Nazima. Dort weiß ich: Wenn ich etwas wirklich will, kann mich niemand aufhalten.

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In Afghanistan gilt Frauensport nicht erst seit den Taliban als unsittlich. Wie seid ihr überhaupt zum Sport gekommen?

Nazira: Wir waren 14 und 15 Jahre alt. Unser jüngerer Bruder hatte ein Fußballmatch mit seinen Freun­den, und wir sollten ihn anfeuern. Aber dann waren da auch zwei andere Mädchen dabei. Wenn die mit den Jungs spielen dürfen, dann wollen wir das auch, haben wir gesagt. Es waren keine Erwachsenen da, also haben wir nicht gezögert. Es war ein unglaub­licher Spaß. Wir hatten ja keine Vorstellung davon, was uns bis dahin entgangen war ...

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Foto: Adobe Stock/trentinness
Die zentralafghanische Provinz Bamyan, in der Nazima und Nazira aufgewachsen sind. Im Hintergrund: die mächtige Koh-e Baba Gebirgskette.

Habt ihr das auch euren Eltern erzählt?

Nazira: Ja, aber sie haben geschimpft und waren strikt dagegen. Eine Frau, die öffentlich Sport treibt, gilt in der afghanischen Gesellschaft als unehren­haft. Und mit ihr ihre Familie.

Später haben euch eure Eltern unterstützt. Woher kam dieser Wandel?

Nazima: Einige Monate nach dem Fußball-­Aben­teuer haben wir in der Schule von einem Marathon­lauf erfahren. Wir wussten, dass unsere Eltern es uns nie erlauben würden, teilzunehmen, deshalb haben wir ihre Unterschriften gefälscht und uns angemeldet.

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Nazira: Unsere Eltern haben erst in den lokalen Nachrichten davon erfahren, weil ich als erste Frau das Ziel erreicht habe. Dabei bin ich nur mit Sanda­len und meinem Ganzkörperschleier mitgelaufen. Andere Frauen haben Hosen und Turnschuhe ge­tragen, sie waren Ausländerinnen. Da ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass mit der Situation der Frauen in Afghanistan etwas nicht stimmt.

Für eure Eltern muss das ein Skandal gewesen sein.

Nazira: Im Gegenteil. An diesem Tag haben sie erkannt, wie ernst es uns mit dem Sport ist. Und natürlich hat es ihnen geschmeichelt, dass man in den Nachrichten über den Erfolg ihrer Töchter be­richtet. Da haben sie eingesehen, dass Sport auch etwas Ehrenhaftes sein kann.

Die zwei Mädchen auf dem Fußballfeld waren der Grund, dass ihr auch mitspielen wolltet. Hat euer Beispiel danach auch andere Frauen ermutigt?

Nazima: Wir haben danach sofort mehrere Mäd­chen aus unserer Nachbarschaft zusammengetrom­melt, um ein Frauenfußballteam aufzustellen. Auch bei unseren Bergtouren wollten andere Mädchen mitkommen. Es ist ein Dominoeffekt: Wenn eine Frau freier lebt, ist sie zugleich ein Beispiel für alle anderen.

Was ist ein Gipfel gegen die Herausforderung, als Frau in Afghanistan zu leben?

- Nazima Khairzad

Nazima, du hast Anfang 2021 als erste Frau den Shah Fuladi erklommen, mit seinen 5.065 Metern der höchste Gipfel in Zentralafghanistan. Was war schwieriger: die technische Herausforderung oder die Tatsache, dass du diesen Berg als Frau in Afghanistan besteigst?

Nazima: Unsere Ausrüstung war rudimentär. Auf dem Weg nach oben hat uns auch noch ein Schnee­sturm überrascht. Aber merkwürdigerweise hatte ich keine Angst. In den Bergen habe ich mich von Anfang an sicher gefühlt. Vielleicht, weil ich dort oben ganz ich selbst sein durfte.

Nazira: Uns hatte Nazima nichts erzählt, wir haben in der Familie alle gedacht, sie sei ein paar Tage mit Freunden campen gegangen. Als sie wieder zurück war, sind wir eines Abends alle vor dem Fernseher gesessen. Da kam auf Tolo News, dem wichtigs­ten Sender in Afghanistan, ein Bericht über Na­zimas Leistung. So haben wir erfahren, dass meine Schwester gerade afghanische Alpingeschichte geschrieben hatte.

Das Bergsteigen ist in Europa noch immer männerdominiert. Eure beiden Brüder hat es aber nie in die Berge gezogen. Für ein Land, in dem Frauen nicht einmal auf der Straße joggen dürfen, hat Afghanistan überhaupt auf­fallend viele Alpinistinnen. Woher kommt das?

Nazima: Afghanische Frauen müssen schon im Alltag für jede Kleinigkeit gegen unvorstellbare Hürden kämpfen. Daher kommt auch unser Mut. Was ist ein Gipfel gegen die Herausforderung, als Frau in Afghanistan zu leben? Im Vergleich zu den Männern haben wir eine zusätzliche Motivation, in die Berge zu gehen. Das Bergsteigen ist für uns nicht nur eine Sportart, sondern der einzige Ort, wo wir frei und wir selbst sein können.

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Foto: Rick Findler
Nazima beim Skifahren

Wie geht es euren früheren Sportkameradinnen, die noch in Afghanistan sind, heute?

Nazira: Frauensport ist seit der Rückkehr der Taliban strengstens verboten. Viele meiner Freundinnen und Verwandten mussten ihre Cousins heiraten, damit die Taliban sie nicht holen kommen. Das Schlimms­te ist aber, dass sie die Schulen geschlossen haben. Damit nimmt man ihnen auch die Zukunft.

Immer wieder sieht man Bilder von Frauen, die in Kabul und anderen Städten gegen diese Unterdrückung auf die Straße gehen.

Nazira: Auch in unserer Heimatstadt Bamyan sind sie im Juni 2022 für ihr Recht auf Bildung auf die Straße gegangen. Nach einigen Tagen haben die Taliban sie festgenommen. Alle Frauen, die ihnen in die Hände gefallen sind, haben sie getötet. Es wa­ren um die dreißig Frauen, zwei kannte ich persön­lich. Das alles war nicht einmal in den Nachrichten. Die Taliban haben gedroht: Wer öffentlich darüber spricht, wird samt der ganzen Familie umgebracht. Jetzt traut sich niemand mehr auf die Straße.

Nazima, in Berlin bist du mit Burka über einen Catwalk gelaufen. Dann hast du die Burka öffent­lich ausgezogen und in eine Ecke geworfen. Dar­ untertrugst du einen Skianzug und Skischuhe. Warum hast du das getan?

Nazima: Organisiert hat das die NGO „Kabul Luft­ brücke“, die mich auch bei der Flucht aus Afgha­nistan unterstützt hatte. Die Entscheidung, an der Aktion teilzunehmen, ist mir unglaublich schwer­ gefallen. Meine Mutter hat früher Burka getragen, und alle meine Verwandten, Tanten und Cousinen tragen sie heute noch. Ich selbst habe nichts da­ gegen. Aber in den meisten Fällen wird sie uns auf­gezwungen. Deshalb wollte ich ein Zeichen setzen: Das bin ich, und ich will das, was ich bin, nicht mehr verstecken müssen.

Wie sind die Reaktionen auf dieses Statement ausgefallen?

Nazima: Zuerst habe ich ein Video an meine Eltern geschickt. Meine Mutter hat mich sofort angerufen. Ich war schon auf Ablehnung und Streit gefasst, aber dann hat sie gesagt, sie sei stolz auf mich.

Oh, wow!

Nazima: Das war auch meine Reaktion: Wow! Die­se Offenheit hatte ich nicht erwartet. Das negative Feedback ist danach gekommen, in den sozialen Medien. Manche haben mich als Abtrünnige be­schimpft, andere haben mich aufgefordert, das Video zu löschen, weil ich damit andere Frauen „verführen“ würde.

Die Alpen finde ich sehr schön, aber irgendwie auch merkwürdig.

Nazira Khairzad

Es ist schwer, sich vorzustellen, dass dein Video so einen Aufschrei provoziert hat, während die Tatsache, dass Frauen zwangsverhüllt werden, als normal durchgeht.

Nazima: Auch die Taliban und ihre Unterstützer wissen, wie stark wir Frauen sind und dass wir ei­nes Tages die afghanische Gesellschaft umwälzen werden. Genau davor haben sie Angst. Deswegen sperren sie uns ein und stecken uns in eine Burka. Dann ist das, wovor sie so große Angst haben, we­nigstens nicht mehr sichtbar.

Wie geht ihr mit so viel Ablehnung um?

Nazima: Ich habe im Nachhinein überlegt, ob ich bei der Aktion etwas falsch gemacht habe. Und ja: Ich würde heute die Burka noch viel entschiedener wegschmeißen. (Lacht.)

Nazira: Einer hat sogar gedroht, nach dieser Aktion könnten wir beide nie wieder nach Afghanistan zurückkehren. Früher hätte mich das wütend und traurig gemacht. Aber inzwischen versuche ich, diese Leute zu ignorieren. Stattdessen habe ich mich auf die positiven Reaktionen konzentriert und mich darüber gefreut.

Nazira, du lebst jetzt in Bologna und du, Nazima, in Frankfurt. Ist es euch da nicht zu flach?

Nazima: Gerade bin ich einfach nur froh, dass unsere Eltern und beide Brüder es geschafft ha­ben, aus Afghanistan nach Deutschland zu flüchten. Zwei Jahre lang sind wir fast verrückt geworden vor Sorge. Wegen uns waren sie in Afghanistan in großer Gefahr. Die Taliban haben sie verfolgt, weil sie uns erlaubt hatten, Sport zu treiben. Ansonsten lerne ich gerade intensiv Deutsch und nutze jede Gelegenheit, um in den Bergen zu wandern.

Nazira: Weil meine ganze Familie jetzt in Frankfurt lebt, bin auch ich vor kurzem zu ihnen gezogen. Bis Juli habe ich aber noch in Mailand gelebt und habe dort beim AC Mailand im Frauenteam als Torfrautrainiert. Da waren die Alpen nahe, ich war ein paar Mal Ski fahren. Die Alpen finde ich sehr schön, aber irgendwie auch merkwürdig. In Afghanistan sind die Berge ganz anders, wilder, karger, größer. Ich vermisse sie.

Bergsport für die Freiheit

Nazima Khairzad lebt nach ihrer Flucht vor den Taliban in Frankfurt. In den kommenden Monaten steht ihr nach europäischem Asylrecht jedoch die Ausweisung nach Italien bevor, weil Nazima dort in die EU eingereist ist. Die neu gewählte italienische Regierung hat sich äußerste Härte gegen Migrantinnen und Migranten auf die Fahnen geschrieben.

Wer möchte, kann für die Finanzierung eines Rechtsanwalts für ihr Asylverfahren und mögliche Verfahrenskosten spenden sowie eine Petition für den Schutz Nazimas unterzeichnen.

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Das Interview mit Nazima und Nazira Khairzad ist in der aktuellen Ausgabe (Oktober/November) des Bergwelten-Magazins erschienen. Dort gibt es weitere spannende Geschichten über Doppelgänger und vieles mehr:

  • Verwechslungsgefahr herrscht bei zwei Hütten mit demselben Namen: Wir wandern von der Tribulaunhütte in Nordtirol zur Tribulaunhütte in Südtirol.

  • Im steirischen Ausseerland besteigen wir einen Aussichtsberg, die Trisselwand, gleich doppelt: Wie ist man schneller am Gipfel – wandernd oder kletternd?

  • Kleine Brüder: Wir besteigen zwei Berge, die jeweils im Schatten eines anderen stehen. Das Große Wiesbachhorn in Salzburg wird oft mit dem Großglockner verwechselt.

  • Den Sommer verlängern: Von sanften Weinbergen bis zu schroffem Fels – auf Zypern gibt es Wanderterrain für jeden Geschmack.

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