Die Tegernseer Hütte
Ein kurzer Aufstieg, ein Sonnenuntergang über den Alpen, eine Nacht im Bettenlager: In Bayern gibt es ein naheliegendes Mittel gegen akute Sehnsucht nach den Bergen. Diese Story ist im Bergwelten Magazin (Juni/Juli 2017) erschienen.
Text: Veronika Dolna
Fotos: Thomas Straub
Es ist ein einfaches Holzschild, das einen Moment des Zögerns auslöst. „Buttermilch“ steht darauf, die dazugehörige Almhütte sieht einladend aus, und für einen Augenblick gibt es keinen Grund, warum man von hier noch weitergehen sollte. Zumindest so lange, bis man den Kopf hebt, ein kleines bisschen nur, und die nächste Verlockung erblickt.
Wie ein Felsenkloster schwebt die Tegernseer Hütte auf 1.650 Metern, flankiert von Roß und Buchstein. Unversehens wachsen die felsigen Gipfel aus den Grasbergen der Bayerischen Voralpen. Sie stehen nah beieinander, als ob sie sich ohne einander allein fühlten als Felsen auf der Alm. Nur die Hütte passt zwischen sie, auf deren schmaler Terrasse weißblaue Sonnenschirme einer regionalen Brauerei einladend zu sich winken. Die Zweifel sind verflogen. Bier sticht Buttermilch. Noch hundert Meter bis zur Tegernseer Hütte.
Zehn Minuten sind es von der Hütte bis zum Gipfel des Roßsteins links, nur eine kurze Kraxelei hinauf auf den Buchstein. Doch schon auf der Terrasse stellt sich das Gefühl ein, ganz oben zu sein.
Hinter der Hütte blickt man hinab auf die Buchsteinhütte. Und vor ihr haben sich die Alpengipfel zum Familienfoto aufgestellt. „Dort hinten ist der Großglockner“, sagt Michl Ludwig, der Hüttenwirt und zeigt auf einen spitzen Gipfel im Dunst. Langsam wandert sein Finger nach rechts, über die Nördlichen Kalkalpen und den Zentralkamm der Hohen Tauern. Zillertaler Alpen. Achensee. Das Karwendel. „Und das dort, das ist die Zugspitze“, sagt Michl. Nur eine Autostunde und einen zügigen Aufstieg von München entfernt, lässt der prächtige Fernblick der Tegernseer Hütte die Erinnerung an den Alltag schnell verblassen.
Seit 22 Jahren führt Michl Ludwig gemeinsam mit seiner Frau Sylvia das wahrscheinlich eindrucksvollste Bergnest Bayerns. Seit er mit 13 Jahren zum ersten Mal in die Berge ging, wusste Michl, dass er später einmal Hüttenwirt werden wollte.
Um die Wartezeit auf einen Studienplatz zu überbrücken, begann er später in Tirol zu arbeiten. Was als Provisorium geplant war, endete erst Jahre später, als die Tegernseer Hütte einen neuen Pächter suchte. „Die ist so schön, die krieg ich sicher nicht“, dachte er sich, als er die Hütte das erste Mal sah. Ein Gedanke, der ihm noch einmal kommen sollte. Doch jedes Mal erwies er sich als falsch.
Kochen wie es schmeckt
Schon 1903 wurde am Sattel zwischen Roß und Buchstein das erste Mal eine Hütte gebaut, auf einer Fläche von gerade einmal 12 Quadratmetern. Die Materialseilbahn von der Buchsteinhütte, die Michl und Sylvia heute für Transporte nützen, gab es damals noch nicht. Das ganze Baumaterial musste also mit den Händen nach oben geschleppt werden. Es hätte leichter zugängliche Orte für ein Schutzhaus der Alpenvereinssektion gegeben, aber wahrscheinlich keinen schöneren. Dafür nahmen die Mitglieder auch große Mühen in Kauf: Hans Kienig, ein 18-jähriger Tischlerlehrling trug damals allein eine mehr als 200 Kilo schwere Holztür vom Tal zur Hütte. Er brauchte dafür drei Stunden.
Die Zeiten haben sich geändert, aber auch heute hat jeder, der oben ankommt, das angenehme Gefühl, etwas geschafft zu haben. Und dafür wird man üppig belohnt. Das Bier ist gut gekühlt und deshalb an heißen Tagen doppelt erfrischend. Die Gläser sind großzügig eingeschenkt, die Gugelhupfscheiben dick, die Portion Maultaschen mit Kartoffelsalat größer als der Hunger. Andi Authenried, ein Schwabe, der schon lange nicht mehr heroben arbeitet, brachte das für eine Hütte ungewöhnliche Rezept mit, nach dem bis heute gekocht wird. „Wir kochen so, wie es uns selber schmeckt“, sagt Michl Ludwig, der noch nie einen Koch beschäftigt hat.
Die ist so schön
„Wir sind hier eine große Familie“, sagt Julia, 28 und Bauingenieurin, die bereits die zweite Sommersaison auf der Hütte verbringt. Und sie hat recht. Fünf Jahre nachdem Michl die Tegernseer Hütte übernommen hatte, kam Sylvia, eine Apothekerin aus Baden-Baden, zum ersten Mal als Gast vorbei. „Die ist so schön, die krieg ich bestimmt nicht“, dachte sich Michl auch diesmal. Wieder lag er falsch.
Zur Hochzeit schenkten Freunde ihnen eine Kletterroute vor der Hüttentür. Seitdem ist die Tegernseer Hütte ein Familienbetrieb. 2002 kam Vroni, die heute 15-jährige Tochter, dazu, die das Fleckchen zwischen Roß- und Buchstein besser kennt, als jedes andere Mädchen. Mit nur vier Wochen wurde sie das erste Mal auf die Tegernseer Hütte getragen. Die ersten Jahre lebte die Familie den ganzen Sommer auf 1.650 Metern. Seit Vroni in der Schule ist, wohnen Sylvia und sie unter der Woche im Tal. Wochenenden und Sommerferien verbringen sie aber bei Michl auf der Tegernseer Hütte.
Das ist auch die Zeit, wo am meisten helfende Hände gebraucht werden. Noch bevor die Gäste, die oben übernachtet haben, mit dem Frühstück fertig sind, steigen oft bereits die ersten Tagesgäste den Weg hinauf. Für den Geruch der warmen Latschen, das ferne Bimmeln von Kuhglocken und einen der spektakulärsten Sonnenuntergänge über den Ostalpen.
Dafür, dass Michl Ludwig dieses Naturspektakel jeden Tag erleben darf, musste er sich buchstäblich abmühen. 36 Bewerber lagen damals im Rennen um die Hütte. Er war zäh und hatte Erfahrung mit dem Alltag in Hütten ohne Wasserquelle und Strom. Am Ende setzte er sich durch.
Bis heute gibt es in der Tegernseer Hütte nur gefiltertes Regenwasser. Den Strom erzeugt eine Solaranlage. Zum Waschen gibt es nur kaltes Wasser, geduscht wird erst wieder im Tal. Übernachten kann man in einem der beiden gemütlichen Lager, Zweibettzimmer gibt es keine. Und wer nach WLAN fragt, wird mit einem mitleidigen Lächeln bedacht.
Die bayerische Gemütlichkeit prägt die ganze Saison über den Alltag auf der Tegernseer Hütte. Für eine Berghütte beginnt der Tag spät. Frühstück gibt es erst ab halb acht. Niemand hier hat es eilig. Kein anstrengender Gipfelaufstieg steht bevor, kein firniger Gletscher zwingt zum zeitigen Abmarsch. Für die meisten geht es am Vormittag wieder nach Hause. Das „Buttermilch“Schild hängt beim Abstieg immer noch vor der Alm unter der Hütte. Und diesmal gibt es tatsächlich keinen Grund mehr zu widerstehen.
Es ist nur ein Kurzbesuch in den Bergen. Für manche ist es eine erste Einführung ins Staunen über ein Gipfelmeer und einen Gebirgshimmel. Für andere ist es eine flotte Rückversicherung zwischendurch, dass es jenseits vom Stress der Stadt immer noch die Ruhe der Berge gibt. Fast alle werden wiederkommen.
Tegernseer Hütte
Pächter: Sylvia und Michl Ludwig
Ausstattung: 38 Schlafplätze in 2 Matratzenlagern
Geöffnet: täglich vom zweiten Samstag im Mai bis zum ersten Sonntag im November
Preise: Lager EUR 17,50 (mit AV-Ermäßigung EUR 7,50), Kinder EUR 5,00
Telefon: +49/8029/997 92 62
Tegernseer Hütte
Touren rund um die Hütte
1. Schneller Aufstieg
Der kürzeste Weg startet beim Parkplatz Bayerwald zwischen Kreuth und Achenpass an der Grenze zu Österreich. In 2,5 h durch den Wald zur Sonnbergalm. Die letzten Höhenmeter führen über einen einfachen Klettersteig.
Ausgangspunkt: Parkplatz Bayerwald
Dauer: 2,5 h
Höhendifferenz: 850 m
2. Langsam nach oben
Wer nicht ganz schwindelfrei ist und es nicht so eilig hat, kann beim Parkplatz Klamm bei der Winterstube starten. Ein leichter, etwas längerer Weg führt zur Buchsteinhütte. Bis hier kann man auch mit dem Fahrrad fahren. Von der Buchsteinhütte sind es noch 400 Höhenmeter zur Hütte.
Ausgangspunkt: Parkplatz Winterstube zwischen Bayerwald und Kreuth
Dauer: 3 h
Höhendifferenz: 809 m
3. Abstieg zum Tegernsee
Ein Sprung in den Tegernsee ist von der Hütte einen halben Tag entfernt. Abstieg zur Buchsteinhütte, weiter zur Schwarzentenalm, durchs malerische Söllbachtal bis nach Bad Wiessee am Westufer des Tegernsees.
Ausgangspunkt: Tegernseer Hütte
Dauer: 4,5 h
Höhendifferenz: 890 m