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Foto: Michela Morosini
Kanuwandern

Ein ganz normaler Fluss, ein letzter seiner Art

• 9. März 2020
8 Min. Lesezeit

Am naturbelassenen Strom des Tagliamento in Norditalien braucht es Paddelgeschick und Orientierungssinn, um den richtigen Weg zu finden. 
Diese Story ist im Bergwelten Magazin (Juni/Juli 2019) erschienen.

Bericht: Katharina Lehner
Fotos: Michela Morosini

Ein alter Bus voll mit Proviant und Ausrüstung, auf dem Anhänger sind drei kanadische Kanus geladen. Über Bundesstraßen und Brücken geht die Fahrt bis nach Moggio Udinese im italienischen Friaul. Hier werden wir die Boote in die Fella lassen, acht Kilometer später wird sie uns in den Flusslauf des Tagliamento spülen. In den letzten großen Wildfluss der Alpen. 

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170 Kilometer schiebt er sich mit seinem Geflecht aus Haupt- und Nebenarmen, Inseln, Auwäldern und Geröllfeldern durch sein Flussbett, das teilweise zwei Kilometer, an seiner engsten Stelle aber nur 150 Meter breit ist. Nie ist er derselbe: Nach jedem Regen sucht sich das Wasser neue Wege von seinem Ursprung am Mauriapass bis zur Mündung in die Adria. 

„Wenn man hier aufwächst, denkt man vielleicht: Ein Fluss sieht eben so aus“, sagt Claudio Salvalaggio, während wir die Kanus für unseren zweitägigen Trip beladen. Viele Anwohner wüssten gar nicht, dass sie hier an einem der letzten unreglementierten Wildflüsse Europas leben. 

Ein Netz aus zahlreichen Haupt- und Nebenarmen bestimmt das Bild des Tagliamento. Ein Flusslauf, der nicht begradigt wurde und wie man ihn heute kaum mehr kennt.
Foto: Michela Morosini
Ein Netz aus zahlreichen Haupt- und Nebenarmen bestimmt das Bild des Tagliamento. Ein Flusslauf, der nicht begradigt wurde und wie man ihn heute kaum mehr kennt.

Nicht von ungefähr gibt es also unterschiedliche Meinungen darüber, ob man in den Flusslauf eingreifen soll: Manche Bewohner von Latisana, deren Dorf schon öfter überflutet wurde, sind dafür, genauso Kraftwerksbauer. Menschen, die ihn wegen seiner Natürlichkeit schätzen, sind dagegen. 
 

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Am Wasser daheim 

Claudio, 40, studierter Forstwirt, zudem ausgebildeter Kultur- und Naturguide, wurde an einem anderen Fließwasser geboren – der Stella, die ungefähr 70 Kilometer weiter südlich entspringt. Jetzt ist sein Lebensmittelpunkt der Tagliamento. Vor einigen Jahren hat er hier eine Organisation gegründet, um den Menschen diese noch unorganisierte Natur näherzubringen. Er packte sie in Kanus und fuhr mit ihnen auf den Fluss. Das Interesse war groß, und so ist es heute zu seinem Beruf geworden, Besucher den Tagliamento hinunterzuführen. 

 

Vollbepackt: In den blauen Containern ist alles untergebracht, was nicht nass werden darf. Voll eingepackt: Da Kentern keine Seltenheit ist, sollte man immer Helm und Schwimmweste tragen.
Foto: Michela Morosini
Vollbepackt: In den blauen Containern ist alles untergebracht, was nicht nass werden darf. Voll eingepackt: Da Kentern keine Seltenheit ist, sollte man immer Helm und Schwimmweste tragen.

Auch wir brechen jetzt auf. Mit Claudio und seinen Schützlingen Mattia, Anna und Michele – alle drei in Ausbildung zu zertifizierten Guides. 

Es ist fast Mittag, und die Sonne brennt senkrecht vom Himmel. Auf der Fella geht es aber gleich so rasant dahin, dass der Fahrtwind Arme und Beine kühlt. Das hereinschwappende Wasser tut sein Übriges. Schnell gewöhnt man sich daran, so zu sitzen, dass das Boot stabil bleibt: Hintern auf der Bank, Knie zur Seite, beinah ein Schneidersitz. „Hinknien geht auch“, ruft Michele von hinten. Geht, geht aber vor allem dann, wenn man keine empfindlichen Schienbeine hat. 

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Jeder hält sein Holzpaddel fest in beiden Händen. Man sticht es ins Wasser und zieht, sticht und zieht. Immer auf der gleichen Seite. Wer vorn sitzt, ist für die Geschwindigkeit verantwortlich, hinten wird gesteuert – und das ist hier dringend notwendig. Wir umschiffen Steinbrocken, große Stücke Treibholz und fahren über Stromschnellen hinweg. Dann eine enge Kurve. Paddeln und steuern. Doch es nützt alles nichts: Das vorderste Boot unserer Gruppe ist schon gekentert. Beide Paddler landen im Wasser. Gut, dass das Gepäck vertäut war und jetzt nicht mit dem Strom davontreibt. Anhalten und Boot ausleeren. „Nichts Besonderes“, meint Claudio, „im Frühjahr, wenn der Fluss am meisten Wasser führt, kentert bei einem Drittel unserer Ausflüge mindestens einmal ein Boot. Damit muss man rechnen.“ Weiter also. Wir erreichen den Tagliamento, wo das Wasser schon etwas ruhiger wird. 

Das Holzpaddel sticht ins Wasser, man zieht und sticht und zieht...
Foto: Michela Morosini
Das Holzpaddel sticht ins Wasser, man zieht und sticht und zieht...
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Die Richtung ist entscheidend 

Wer denkt, dass eine Kanufahrt auf diesem Fluss darin besteht, im Boot zu sitzen und sich Richtung Meer treiben zu lassen, der irrt. Der Tagliamento sucht sich seinen Weg, und wir suchen den unsrigen auf ihm. Ständig muss entschieden werden, welchem Arm wir weiter folgen. Ab und zu müssen wir aussteigen und das Boot an der Hand durch seichtere Stellen führen. 

Es beruhigt, mit ehemaligen Pfadfindern unterwegs zu sein: Anna, Michele und Claudio haben sich als Kinder einer Gruppe angeschlossen – Pfadfinder, das ist man irgendwie für immer. Claudio führt die Gruppe an: Mehrmals steht er auf und betrachtet die unterschiedlichen Flussarme genau, bevor er sich für einen entscheidet und mit seinem Paddel in die entsprechende Richtung zeigt. „Je blauer das Wasser, desto tiefer ist es. Sind gleich unter der Oberfläche Steine, wirkt es weiß“, kommentiert Michele die Richtungsentscheidung. Wir wollen das türkisblaue Wasser. Auch wenn es tief ist, sieht man durch das klare Nass bis zum Grund. Ganz unten zieht die Strömung an den Algen, die wie Haarschöpfe an kopfgroßen Steinen hängen. 

Über uns tummeln sich Seemöwen, Reiher und ganz hoch oben manchmal ein Gänsegeier. Sie nutzen die Thermik, um in die Höhen aufzusteigen. 

Schwitzend und paddelnd ziehen wir an Vögeln und Menschen vorbei, die den Abend für ein kühles Bad nützen. Bald schon haben wir unser Tagesziel erreicht, das Viadukt von Braulins. Schwimmen im Fluss, bevor wir unser Lager zwischen Pappeln und Weiden aufbauen, die einzigen Bäume, deren Wurzeln die zeitweise auftretenden Überschwemmungen aushalten. 
 

Geschichten am Lagerfeuer 

Als die Sonne untergegangen ist, wird das Abendessen auf einer Plane im noch warmen Sand ausgebreitet. Definitiv nichts für Veganer: Es gibt Koteletts, Würstchen und Speck, gegessen wird mit den Fingern. 

Wir sitzen am Lagerfeuer und erzählen Geschichten. „Der Tagliamento ist Teil unserer Identität“, sagt Anna und stimmt zum Beweis ein altes friulanisches Lied an. Es handelt von einem Mann aus dem Arzino-Tal, der über die Brücke von Braulins spaziert und Lupinen aus seinem Korb verkauft. 

Friulanisch klingt nicht wie das Italienische, ist auch kein Dialekt davon, sondern entwickelte sich parallel zu Latein. Etwa 600.000 Menschen sprechen heute noch Friulanisch, die meisten davon leben hier. Es gibt Literatur, Liebesgedichte, Zeitungen, Filme; die Sprache wird im Alltag verwendet, ist neben Italienisch offizielle Amtssprache und wird seit kurzem wieder in der Schule unterrichtet. Eine kleine, aber keine tote Sprache. 

Friaul-Julisch Venetien, wie die Region im Ganzen heißt, beherbergt viele unterschiedliche Volksgruppen. Nicht nur aufgrund der Nähe zu Österreich und Slowenien, sondern auch weil die Herrscher im Lauf der Geschichte sich die Klinke in die Hand gaben: Unter anderem waren es langobardische Herzöge, Venedig und die Habsburger. Heute besitzt die italienische Region Autonomiestatus. Auf die Vielfältigkeit ist man genauso stolz wie auf die feinen Unterschiede zwischen den friulanischen Dialekten östlich und westlich des Tagliamento. 

Später im Zelt liegen wir weich auf dem sandigen Grund und hören dem Fluss beim Rauschen zu. Man schläft tief, wenn man den ganzen Tag gepaddelt hat. 

Noch bevor am nächsten Morgen alle aus ihren Zelten gekrochen sind, wirft Claudio schon den Gaskocher an und bäckt Pancakes. „Habe ich im Auslandssemester in Kanada gelernt“, sagt er und wendet einen, indem er ihn mit der Pfanne in die Luft wirft und wieder auffängt. 

Vorn beginnt ein Abschnitt mit Stromschnellen. Claudio fährt voran, die anderen Boote folgen seinem Kurs.
Foto: Michela Morosini
Vorn beginnt ein Abschnitt mit Stromschnellen. Claudio fährt voran, die anderen Boote folgen seinem Kurs.

Kaltes Wasser zwischen den Zehen

Nachdem auch der Kaffee getrunken ist, geht es zurück zu den Kanus. Eine Zeitlang müssen wir noch waten, bis der Tagliamento wieder tiefer wird und wir in die Boote steigen können. Das Wasser zwischen den Zehen fühlt sich kälter an als gestern. Man freut sich regelrecht aufs Paddeln: Heute haben wir uns die zwanzig Kilometer bis nach Pinzano vorgenommen. Bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von fünf Kilometern die Stunde eigentlich keine tagesfüllende Fahrt – wären da nicht Hindernisse zu überwinden. 

Der Fluss ist zwar wild und unreglementiert, das heißt aber nicht, dass der Mensch keine Spuren hinterlassen hat. Im Fluss und entlang des Flussbetts finden sich Wehranlagen aus der Zeit der Weltkriege: in den Stein gehauene Höhlen, die als Waffenlager dienten, ein Bunker mit Schießscharten, der von der Ferne aussieht wie ein natürlicher Felsbrocken. Alle paar Kilometer spannen sich Brücken über das Flussbett, befahren von Autos und Zügen. Damit deren Fundamente nicht unterspült werden, verlangsamen Betonwände den Wasserfluss und bilden eine Art Stufe. Um eines dieser Hindernisse an der Autobahnbrücke bei Osoppo zu überwinden, müssen wir die Kanus an Seilen ablassen. Nach der Barriere ist das Wasser langsam und seicht. Wieder waten wir und ziehen die Boote hinter uns her. 
 

Der Tagliamento hat viele Gesichter

Glücklicherweise münden mehrere kleinere Flüsse in den Tagliamento: Der Torrente Palar schiebt uns jetzt mit seinem Wasser wieder an. Vorbei geht es an Dörfern, deren Hausdächer in der Ferne aufblitzen, und durch das Naturschutzgebiet, das auch den unglaublich türkisen Lago di Cornino beherbergt. 

Alle paar Meter zeigt der Fluss ein neues Gesicht: Zwischen seichtem Gewässer – wo man dem Grund so nahe ist, dass man an den Steinen festgesaugte Mückenlarven sehen kann –, Stromschnellen und tiefen Becken, die an Seen erinnern, liegen oft nur wenige Minuten. 

Der heutige Tag hält von allem mehr bereit: mehr Abwechslung, aber auch mehr Aussteigen, mehr Sonne, mehr Paddeln. Man freut sich regelrecht auf Passagen, die ohne Kraftaufwand überwunden werden können. 

Nach ein paar Stunden ist das Ziel endlich in Sicht: die Brücke von Pinzano – die engste Stelle des 170 Kilometer langen Flusses. Ungefähr 70 Kilometer sind es noch bis zum Meer. Der Tagliamento führt aber gerade nicht genug Wasser, um bis dorthin zu kommen. Hier ist also Schluss. Dafür freuen wir uns auf eine Stärkung im nahe gelegenen Städtchen San Daniele: für jeden einen Teller vom weltberühmten Prosciutto. 

Der Monte Chiampon (rechts) erhebt sich über dem Dorf Gemona del Friuli.
Foto: Michela Morosini
Der Monte Chiampon (rechts) erhebt sich über dem Dorf Gemona del Friuli.

König der Alpnflüsse - Tipps und Adressen für eine Reise an den Tagliamento 

Ankommen

Um vor Ort mobil zu sein, bietet sich 
die Anreise mit dem Auto an. Als Zielorte eignen sich zum Beispiel Tolmezzo oder San Daniele. Dorthin gelangt man von Osten über die A2 und von Westen über den Brennerpass oder alternativ Lienz. 

Essen und Schlafen 

Zelt-Regelung

Die gesetzlichen Vorgaben zum Zelten sind unübersichtlich – jede Gemeinde regelt ihr Gebiet selbst. Als Daumenregel gilt: Wildcampen in sehr touristischen Gebieten wie Tarvisio ist verboten, weitab vom Schuss wird es toleriert. Aber auch dort darf man höchstens 48 Stunden am selben Ort bleiben. Nie am Ufer oder auf Höhe des Flusses, sondern immer höher gelegen zelten. Der Wasserpegel kann plötzlich ansteigen. Feuer sind ab 1. Juli verboten, davor müssen sie bei einer Stazione Forestale angemeldet werden. 

Prosciutto-Hochburg

Aus San Daniele kommt der berühmteste Prosciutto Europas. Im Städtchen sind Produzenten angesiedelt, die Führungen und Degustationen anbieten. Wer ein Degustationsmenü mit Antipasti möchte, besucht die Osteria am Zentrumsrand. 
L’Osteria, Via Trento Trieste 71, 33038 San Daniele del Friuli

Kanufahren

Paddel-Saison

Der Mittellauf des Tagliamento kann das ganze Jahr über befahren werden, bis Spilimbergo führt er immer genug Wasser. Weiter südlich kommt es auf Schneeschmelze und Niederschlag an. Gibt es wenig davon, ist es bis Codroipo trocken. 

Bis zum Meer 

Wer die gesamte Strecke von Norden – Einstiegspunkt in Venzone, bei hohem Wasserstand auch Tolmezzo (Achtung: nur für erfahrene Paddler) – bis zum Meer zurücklegen möchte, sollte das gleich nach der Schneeschmelze im Frühling tun oder alternativ zur Herbstregenzeit im Oktober/November.
 Genauere Infos: faltboot.org/wiki oder flusswandern.at/tagliamento 

Wandern & Biken 

Aussichtsberg

Eine schöne Frühlingstour ist die Besteigung des Monte Chiampon (1.709 m). Der Weg ist ausgesetzt und steil, doch am Gipfel angekommen bietet sich wunderbare Aussicht auf das Flussbett. Ausgangspunkt: Ende der Stradadi Foredor in Gemona del Friuli

Strecke: 6,3 km
Dauer: 4 h
Höhendifferenz: 980 m 

Radeln am Fluss 

Mit dem Rad von der Quelle bis zur Mündung: An Dörfern vorbei, über Brücken, durch alte Eisenbahntunnel und über Wiesen geht es am Flusslauf des Tagliamento entlang. Für die Strecke sollte man zirka drei Tage einplanen – übernachten kann man zum Beispiel in Tolmezzo, San Daniele oder Codroipo.

  • Am Fluss zu Hause

    Guida Naturalistica 

    Claudio Salvalaggio und seine Guides kennen den Tagliamento, die Umgebung und die Geschichten des Flusses in­ und auswendig und lassen gern dar­ an teilhaben. Buchen kann man sie für eine eintägige oder auf Anfrage auch mehrtägige Tour mit dem Kanu oder dem Raft, genauso wie für Wanderungen im Umland. Es gibt zwei Möglich­keiten: Entweder man bucht eine Unternehmung aus dem Kalender oder lässt sich eine individuelle Tour organisieren. 

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