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Berggedicht

Friedrich Nietzsche: „Sommer im Hochgebirge“

• 4. Mai 2018
1 Min. Lesezeit

Wir geben euch wieder ein Berggedicht mit in die Woche. Diesmal: „Sommer im Hochgebirge“ von Friedrich Nietzsche (1844-1900), einem der bedeutendsten Philosophen überhaupt.

Der Silser See im Oberengadin in der Schweiz
Foto: mauritius images / United Archives
Der Silser See im Oberengadin in der Schweiz: In Sils-Maria verbrachte Nietzsche mehrere Sommer
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„Um Mittag, wenn

der junge Sommer ins Gebirge steigt,

da spricht er auch

doch sehen wir sein Sprechen nur:

sein Atem quillt wie eines Wandersmanns

Beliebt auf Bergwelten

im Winterfrost.

Es geben Eisgebirg' und Tann' und Quell

Auch beliebt

ihm Antwort auch:

doch sehen wir die Antwort nur.

Denn schneller springt vom Fels herab

der Sturzbach wie zum Gruß

und steht, als weiße Säule zitternd da.

Und dunkler noch und treuer blickt die Tanne

als sonst sie blickt.

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Und zwischen Eis und totem Graugestein

bricht plötzlich Leuchten aus –

er deutet dir's?

– in toten Mannes Auge

wird's wohl noch einmal Licht:

sein Kind umschlingt ihn harmvoll

und küsst ihn.

Da sagt des Auges Leuchten:

ich liebe dich! –

Und Schneegebirg und Bach und Tann'

sie sagen auch

zum Sommerknaben nur

„wir lieben dich!

wir lieben dich!“

Und er – er küsst sie harmvoll,

inbrünstiger stets

und will nicht gehn:

er bläst sein Wort wie Schleier nur

von seinem Mund –

ein schlimmes Wort:

„mein Gruß ist Abschied,

ich sterbe jung.“ –

Da horcht es rings

und atmet kaum;

da überläuft es schaudernd, wie

ein Glitzern, das Gebirg,

rings die Natur:

Sie denkt und schweigt. –

Um Mittag war's.“

Philosoph Friedrich Nietzsche
Foto: mauritius images / Classic Image / Alamy
Der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900)

Friedrich Nietzsche

Friedrich Nietzsche, 1844 in Röcken (Sachsen-Anhalt) geboren, zählt zu den bekanntesten deutschsprachigen Philosophen überhaupt. Nach seinem Studium in Leipzig wurde er als außerordentlicher Professor für klassische Philologie an die Universität Basel berufen. Mit Verschlechterung seines Gesundheitszustands legte Nietzsche die Professur 1879 wieder nieder.

Fortan widmete sich der Philosoph diversen Reisen nach Frankreich, Italien und in die Schweiz. Insbesondere das Oberengadin hat es Nietzsche angetan: „St. Moritz (ist) der einzige Ort der Erde (...), der mir entschieden wohltut, bei gutem und schlechtem Wetter“, liest man in einem Schreiben an seine Mutter. In Sils-Maria im Engadin fand Nietzsche schließlich „den lieblichsten Winkel der Erde“.

Er sollte dort mehrere Sommer verbringen und – nicht zuletzt von der Kulisse des Hochgebirges inspiriert – eine seiner bedeutendsten Werke verfassen, darunter etwa „Jenseits von Gut und Böse“, „Zur Genealogie der Moral“ und „Götzendämmerung“. In den letzten Jahren seines Lebens verfiel Nietzsche zusehends dem Wahnsinn, ehe er 1900 an den Folgen dieser geistigen Umnachtung in Weimar verstarb.

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