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Messner Philosophikum

Reinhold Messner: Atmen & filmen

• 19. Oktober 2021
5 Min. Lesezeit

Auf Knien zum Gipfel, mit der Filmkamera in der Hand: von der ersten Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoff, vom Wert des Nutzlosen und von der wahren Natur des Menschen.

Autor: Reinhold Messner für das Bergwelten Magazin Juni/Juli 2015

Am 8. Mai 1978 krochen Peter Habeler und ich im Schneesturm und bei minus 40 Grad über den Südgrat des Mount Everest. Auf Knien zum Gipfel! Zum einen, weil uns der heftige Nordwestwind vom Grat zu blasen drohte, zum anderen, weil wir uns nach wenigen Schritten so erschöpft fühlten, dass wir uns über den im Schnee eingerammten Pickel legten, um zu atmen, atmen, atmen.

Wir waren trotz Kälte und Sturm am Südsattel aufgebrochen und anfangs noch recht zügig vorangekommen. Mit jeder Stunde und jedem Höhenmeter aber waren wir langsamer und noch langsamer geworden, bis uns nur noch dieses schneckengleiche Kriechen möglich war. Ich habe die Eindrücke und Erinnerungen damals aufgeschrieben, unmittelbar nach dem Abstieg ins Basislager.

Die Aufzeichnungen geben nicht nur Einblick in unser Vorankommen, vor allem erzählen sie vom Zustand unseres Daseins auf 8.800 Meter Höhe: „Knapp unter dem Südgipfel fingere ich erstmals die Kamera aus dem Rucksack und filme Peter, wie er im jagenden Sturm vor mir aufwärts steigt. Erstmals an diesem Tag glaube ich an den Erfolg. Ich will ihn dokumentieren.“ Die kleine Super-8-Fujica hatte mir der Kameramann Leo Dickinson mit gegeben, der eine Dokumentation zu unserem Everest-Experiment ohne Maske produzieren sollte. Leo war bei 7.000 Metern als Regisseur und Kameramann ausgefallen, Eric Jones, der uns zum Gipfel begleiten sollte, musste am Südsattel wegen Höhenproblemen zurückbleiben.

Also drehte ich selbst: wie Peter den Hillary-Step hochsteigt, wie der Sturm über den Grat jagt, wie die Schneewirbel alles wegwischen. Die Kamera war so präpariert, dass man nur auf den Auslöser drücken musste – nicht einfach mit den dicken Handschuh-Fingern. Leo hatte mir aufgetragen, das letzte Stück vor dem Gipfel zu filmen. Dieser Befehl steckte tief in meinem Bewusstsein.

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Wenn ich zwischendurch über die dunkle Kamera hinweg nach oben schielte, schien es mir, dass der Gipfel weiter wegrückte. Obwohl wir immer noch aufwärts stiegen. Alles nur, weil wir mit jedem Schritt langsamer wurden.

Peters Bewegungen wie in Zeitlupe: Stieg da nur noch ein Schatten? Wir waren jetzt auch ungeschickt, wie gelähmt, zerbrechlich: „Zuletzt von den wenigen Handgriffen des Filmens völlig erschöpft, packe ich die Kamera weg, vergesse dabei, die Sturmbrille wieder aufzusetzen.“ Wir stiegen in maximaler Exposition, ohne uns an einer Spur, an Strukturen orientieren zu können. 

Wir hatten nur uns, unser Vertrauen zueinander und die Ahnung, dass jeder Fehler tödlich sein könnte. Vorerst kein Gedanken an die Kamera, die Kraft reichte nur noch für den jeweils nächsten Schritt.„Es ist jetzt auch einerlei, dass wir ohne Sauerstoffgerät klettern. Am höchsten Berg der Welt! Jetzt ist es allein dieser Punkt, in dem alle Linien zusammenlaufen, der Endpunkt, den ich erreichen will.“

Das Rennen meines Lebens

Wieder holte ich die Kamera aus dem Rucksack, fummelte an der Batterie herum, bis ich sie zum Laufen brachte: „Ich filme Peter, wie er vom Südgipfel kommt, später, wie er aus dem Abgrund am Hillary-Step auftaucht: Er steigt wie in Trance und doch sicher wie daheim, gleichzeitig wie ein Roboter, der fehlerfrei funktioniert, seine Bewegungen, Zuckungen.

Als bestünde er nur noch aus Schnaufen.“ Ich atmete jetzt wie einer, der das Rennen seines Lebens gelaufen ist, und weiß, dass er sich bald ausruhen kann. Vielleicht für immer. „Ich bin nur noch eine einzige, eine berstende, keuchende Lunge. Der Mund weit aufgesperrt: atmen, atmen, atmen. Peter starrt mich an, als müsse er sich mein Gesicht einprägen. Mir ist, als ob er mich nicht kenne.“ So starrte er auch in die Kamera.

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Ein großartiges Dokument entstand! Es ist später der Beweis, dass wir ohne Sauerstoffmaske zum Gipfel kamen. Wochen später erst war ich Leo dankbar, dass er mich zum Filmen gezwungen hatte, er hatte damit die Filmbilder, wir den Beweis!

Ein Gesicht erzählt

Wenig nach Mittag erreichten Peter und ich den Gipfel. Im Sucher der Kamera sah ich sein Gesicht: Alle Angst und Zweifel waren von ihm abgefallen, einen Moment lang war er nur noch Glück. Nach einer Umarmung und ein paar Fotos stieg er ab, ganz allein, ohne Seil: „Nein, ich kann ihn nicht zurückhalten. Ich sehe noch, wie er am Südgipfel verschwindet. Ich packe eine Filmkassette aus, werfe aber statt der Verpackung den Film in den Abgrund. Erst als er verschwindet, wird mir klar, was ich getan habe. Nach so viel Konzentration überwältigt mich wieder Trägheit. Es ist genug, ich muss nicht mehr filmen, will sofort absteigen. Es ist wie ein Befehl. Ich lasse alles in den Rucksack fallen und mache mich an den Abstieg.“

So rettete ich die Kamera zurück in die Zivilisation. Die Bilder sind später auf mehr als 50 TV-Kanälen gezeigt worden. Weltweit. Diese Kamera kann zwar nicht erzählen, was wir am Everest-Gipfel empfunden haben. Aber sie hat festgehalten, was mit uns passiert war. Heute noch spiegeln sich in Peters Gipfelgesicht Angst und Mut, Verzweiflung und Hoffnung, Leid und Glück – alles, was uns auf dem langen Weg von der Idee bis in 8.850 Meter Meereshöhe getragen hat.

Den Gipfel haben wir erreicht, weil wir eins mit unserem Ziel geworden waren, wir genügend Motivation angestaut hatten, um auch in Momenten der Hoffnungslosigkeit nicht zu verzagen. Dieses Filmdokument ist entstanden, weil mich Leo oft motiviert hatte: die Kamera nicht vergessen! Damit ist es gelungen, ins Unbekannte vorzustoßen, nicht mehr in unerforschte geografische Regionen, vielmehr in jene Tiefen der Menschennatur, die sich in Wahrheit nur an der Schwelle zwischen Möglich und Unmöglich auftun.

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Emotional stark bis heute

Im Museum auf Schloss Sigmundskron bei Bozen steht der Satz, den ich damals an den Anfang meines Berichts über den Aufstieg ohne Maske gestellt habe: „Ich wollte einmal hoch hinaufsteigen, um tief in mich hinabzusehen.“ Daneben hängt ein Berg, Gipfel nach unten. Er soll symbolisieren, dass es mir weniger um die Natur der Berge als um die Natur des Menschen geht, wenn ich hinaufsteige. Vielleicht sind meine Gipfelbilder vom Mount Everest deshalb so stark, weil sie diese Emotionen spiegeln.

Dort, wo nichts Nützliches zu holen ist, muss dem Nutzlosen sein Wert bleiben: als Erfahrungsraum für unser Selbst. Heute erwarten Sponsoren und TV-Produzenten meist professionelle Bilder von Bergbesteigungen. Großartige Filme sind in den letzten Jahren dazu entstanden.

Das Abenteuer aber musste damit schrumpfen, weil der Grundsatz gilt: je perfekter die Dokumentation – begleitende Profikameraleute, Heli-Begleitung, Kamera von oben –, umso weniger ist die gefilmte Aktion authentisches Abenteuer. Sicher, unser Everest-Film ist dilettantisch gemacht, emotional jedoch bleibt er stark bis heute.

Reinhold Messner, geb. 1944 in Brixen, stand als erster Mensch auf allen 14 Achttausendern der Erde. Er ist erfolgreicher Buchautor und baute das Messner Mountain Museum an mittlerweile fünf Standorten in Südtirol auf.

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