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Foto: Hans Herbig
Wintersport

Telemarken in Bayern

• 22. November 2021
5 Min. Lesezeit

Der alte Schwung, wie ihn unsere Großväter und Urgroßväter gefahren sind: immer instabil, aber das schönste Rendezvous mit dem Schnee. Über das Fahren mit lockerem Ski.

Christian Thiele für das Bergwelten-Magazin Dezember/Jänner 2016

Da ist diese Wechte. Der Westwind hat die glitzernd weiße Lippe aus frischem Pulverschnee über den grauen Fels gehäufelt. Sollte man drüberfahren, einen Juchzer machen, dann zwei, drei Meter springen, in einem flauschigen Kissen landen, es wäre noch genügend Platz für einen Schwung nach links.

Während wir so vor uns hin überlegen, setzt Moni ihre Brille auf, schiebt mit den Stecken an wie eine Abfahrerin bei der Explosion aus dem Starthäusl, zieht das linke Knie nach innen, fährt auf dem rechten einen großen, weiten, runden Telemarkschwung, hockt an, fliegt über die Kante, macht einen Juchzer, setzt federweich auf, Schwung nach links, Schwung nach rechts, noch ein Juchzer.

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Strahlend vor Adrenalin und Glück schaut sie nach oben, zu uns, den Grüblern, und ruft: „Auf geht’s, Burschen! Geile Sache!“ Ein paar Skitouristen am Lift steht der Mund offen, ein anderer hat von der Piste aus sein Handy aus der Skijacke gepfriemelt, aber für ein Foto war Moni zu schnell.

Was wenig überraschend ist: Monika Rieder ist ehemalige Telemark-Weltcup-Rennläuferin, Vorfahrerin im Telemark-Lehrteam des Deutschen Skiverbands. Bei jedem Telemarker-Treffen so ziemlich die Letzte, die den Absprung von der Bar schafft. Und immer mit einer Dose Schnupftabak ausgerüstet.

Portrait der Telemarkerin
Foto: Hans Herbig
Monika Rieder, ehemalige Weltcup-Läuferin und begeisterte Telemarkerin.

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Unsinnig und Widerborstig

Über einem tiefblauen Himmel steht die Sonne, eine Etage darunter funkelt das Gipfelkreuz der Alpspitze, des Wahrzeichens von Garmisch-Partenkirchen, noch eine Etage tiefer liegt ein Viertelmeter silbrig flimmernder Neuschnee über dem Werdenfelser Land.

Hinten die Zugspitze, rechts davon der fast angeberisch spitze Daniel und die Ammergauer Alpen, dann der Blick talauswärts Richtung Murnau und München, der Wank, die mächtige Soiernspitze, die gewaltige Wettersteinwand: 360 Grad alpiner Kitsch, ein Wintertag, wie ein Wintertag nur sein kann.

„Free your heel, and your mind will follow“, so geht der alte Telemarker-Spruch: Mach die Ferse frei – und dann das Hirn. Tief durchschnaufen, dann pflüge ich mich durch den Schnee. Das linke Knie tief gebeugt, der Pulver staubt mir ins Gesicht, jetzt wuchte auch ich mich über die Wechte, nicht ganz so elegant wie Moni, aber immerhin stehe auch ich nach dem Sprung noch.

Ein, zwei, drei kurze Schwünge. Und ich bin bei Moni. Telemarken, das ist dieser alte Schwung, wie ihn unsere Großväter und Urgroßväter noch gefahren sind, mit Lederschuhen und Stangen statt Stöcken. Telemarken, das ist anstrengend und anspruchsvoll und instabil und ein ewiges Materialgefrickle – in einer Zeit, wo alles leichter, schneller, glatter, komfortabler zu sein hat, im Sport und überhaupt.

Telemarken, das ist völlig unsinnig und widerborstig und retro – als ob man einen getunten Fünfzigerjahre-Cadillac mit Haiflosse fährt, wo man doch auch einen praktischen Van fahren könnte. Telemarken, das ist ein feines Zirkeln auf der Piste und ein jauchzendes Vergnügen in unverspurtem Gelände.

Telemarken, das ist wegen der tiefen Position das direkteste, spektakulärste und waghalsigste Rendezvous mit dem Schnee, das man nur haben kann. Telemarken, das ist ein Sport mit Weltcuprennen, Weltmeisterschaften und demnächst wohl auch Olympiasiegern – und trotzdem kommt man den Spitzenathleten bei den Rennen in Hintertux, am Oberjoch oder in Oslo am Lift und auf der Piste so nahe, als hätte man sich gemeinsam auf ein paar Schwünge verabredet.

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Die Gruppe beim Aufstieg
Foto: Hans Herbig
Tiefschnee-Trio auf dem Weg zur Stuibenspitze.

Und in Garmisch, am Fuß der Alpspitze, ist das Telemarken nie aus der Mode gekommen. „Hier gab es immer eine Szene“, sagt Moni, als wir am Lift stehen, „in Garmisch gab es immer so ein Nest und am Spitzingsee, im Allgäu und am Arlberg.“

Moni hat Haselnussstecken mitgebracht, schulterhoch. Die Stöcke werden bei der Liftstation deponiert, jetzt wird mit der Stange gefahren: Ein bisschen wie beim Besenschwingen wandert die Stange mit jedem Schwung von rechts nach links und dann wieder von links nach rechts.

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„Macht Bock, oder?“, sagt Moni nach ein paar Schwüngen. „Und für die Koordination ist es auch gut!“

Noch schneller, noch steiler

Beim Telemarken, sagt sie, ist man nie wirklich fertig. Jeder hat ein Stück weit seine eigene Technik, und jeder schwört auf sein eigenes Material: Es gibt verschiedene Bindungssysteme, man kann sie weiter hinten auf dem Ski montieren oder weiter vorn, mit einer härteren Feder oder einer weicheren.

Man kann immer noch etwas steiler fahren, schneller fahren, längere Radien. „Deshalb ist Telemarken auch Kopfsache“, sagt Moni. „Einen Alpinschwung kriegt man schon irgendwie hin. Aber Telemark, das musst du echt wollen. Sonst haut es dich sofort aufs Maul!“

Ein Bein nach vorn gebeugt, das andere nach hinten – Telemark ist eigentlich die permanente Instabilität. Gehalten nur durch Kraft, Koordination, Geschick. Hans Conrad ist auch so einer: In den Achtzigerjahren war er eine Zeit lang in Colorado, hat dort das Telemarken entdeckt und brachte es mit zurück, nach Garmisch, in das Sportgeschäft, das er nach und nach von seinem Vater übernahm.

Heute verkauft er Touren- und Telemarkski von Spitzbergen bis Sizilien, aber in Garmisch war das Fahren mit dem Knick immer besonders lebendig – auch dank ihm und seinen Freunden.

Telemarken abseits der Piste.
Foto: Hans Herbig
Kniefall in unverspurtem Gelände.

„Es gab immer ein paar Leute, die wieder irgendwo ein Festival, ein Rennen oder sonst wie einen Event organisiert haben – und wir immer live dabei. Auch wenn der Sport dabei nicht immer so direkt im Vordergrund stand“, sagt Hans lächelnd.

Bei Monika Riederer ging das alles so los: Der Vater ist Chiemgauer, dort, in Halfing, verbrachte sie die meiste Zeit im Schnee. Buckelpistenrennen, Skilehrerin schon im Teeniealter, 80 bis 100 Skitage pro Winter. „Und irgendwann wollte ich was Neues probieren, so etwas, wie mein Vater in seiner Jugend gefahren ist.“

Ab da fuhr auch sie mit dem Knicks. Es gibt keine offizielle Freiferslerstatistik, aber bei den großen Festivals im Kleinwalsertal, in Hintertux, in Livigno treffen sich hunderte Freaks aus Bayern, Schwaben, vom Arlberg – und nicht zu vergessen aus der Pfalz.

Es sind meistens Leute in den Dreißigern, Vierzigern, die gelangweilt sind von der Jagd auf den noch steiferen Alpinschuh, den noch leichteren Ski und die einfach Spaß haben wollen – auf und neben der Piste, nach und vor und während des Fahrens.

Bei Moni Rieder kamen bald die ersten Weltcuprennen und WM-Teilnahmen – bis sie nach einer Verletzung den Rennsport aufgab und sich auf das Weitergeben konzentrierte: Jugendrennfahrer trainieren, Telemarklehrer ausbilden, solche Dinge. Kurz vor der Talstation zum Bernadeinlift scheren wir nach rechts aus, in den Wald.

Wir ziehen uns die Felle unter die Ski, denn wir wollen auf die Stuibenspitze aufsteigen. Der Schnee glitzert auf den Fichten, Schritt für Schritt gleiten wir nach oben, Spitzkehre um Spitzkehre. Eine gute Stunde später: Gipfelbussi, Felle runter und ein paar saubere Telemarkbögen in den breiten, mäßig steilen Hang pflügen.

Ob einer gut oder schlecht fährt – darum geht es beim Telemarken gar nicht so sehr. Es geht eher um eine generelle Haltung zum Leben auf der Piste – also zum Leben. Immer schön lächeln, immer schön grüßen – und immer eine Prise Schnupftabak dabeihaben.

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