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Foto: Enno Kapitza
Wandern in Südtirol

Ein Spielplatz in den Bergen. Unterwegs im Passeiertal.

• 4. November 2021
4 Min. Lesezeit

Wo man oft nur Ziegen trifft und manchmal auch Tarzan begegnet. Wo man den dritthöchsten Wasserfall Europas bewundert und den besten Kaiserschmarrn bekommt: unterwegs im Passeiertal.

Titus Arnu für das Bergweltenmagazin März 2017

Tarzan lebt. Er nennt sich jetzt Erwin Mairginter und wohnt in St. Martin im Passeiertal. Im Vergleich zum klassischen Film-Tarzan trägt er die Haare ziemlich kurz. Und statt Lendenschurz hat er kurze Sporthose und T-Shirt an. Aber ansonsten haben Original-Tarzan und Südtiroler Berg-Tarzan einiges gemeinsam: die Kraft, die Naturkenntnisse, den Mut und: das Schwingen an Seilen.

Erwin Mairginter. Ehemaliger Bergführer.
Foto: Enno Kapitza
Erwin Mairginter in der Passerschlucht.
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Erwin springt in der Passerschlucht von Stein zu Stein, wieselt durch den dschungelartigen Wald, deutet auf seltene Pflanzen: „Hier, eine Feuerlilie.“ Mit seinen 53 Jahren ist er drahtiger und muskulöser als so manch ein Dreißigjähriger. Ein schmaler Pfad führt durch die Schlucht zu seinem Lieblingsplatz. Oben krallen knorrige alte Nadelbäume ihre Wurzeln an den Fels. Unten tost die Passer zwischen ausgewaschenen Wänden hindurch, stürzt über meterhohe Stufen in türkisfarbene Becken.

Erwin streicht über die Rinde seiner Lieblingsbäume, nickt stumm, schaut nach oben und zeigt auf ein Gewirr aus Leinen, Haken und Trittleitern. Hat er alles selber gebaut – inklusive Seilrutschen, Kletterrouten und Grillplatz mit Blick auf das sprudelnde Wildwasser 50 Meter weiter unten. „Mir war es wichtig, dass es urig aussieht, sich gut in die Natur einpasst. Darum arbeite ich viel mit Naturmaterialien, die Leitern sind alle aus Kastanienholz“, beschreibt der Bauherr seine Naturphilosophie.

Unter Erwins fachlicher Aufsicht können Besucher in der Schlucht herumklettern, sich bis zum Wasser abseilen und von Wipfel zu Wipfel balancieren. Oder an einem Seil gesichert in die Schlucht springen und über dem Abgrund auspendeln – „Tarzaning“ nennt Erwin Mairginter diese Übung. Sich einfach mal fallen lassen, ist die Devise – und zwar bis zu 20 Meter tief. Da baumelt nicht nur die Seele, da baumelt der gesamte Körper. Wenn Erwin mit seinen Canyoning-Gruppen unterwegs ist, hallt die Schlucht wider von den markerschütternden Schreien der Teilzeit-Tarzans und Hobby-Janes.

Eine Schafherde in der Sonne.
Foto: Enno Kapitza
Am Weg zum Hirzer rastet eine Schafherde in der Sonne.

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Barfuß am Berg

Erwin Mairginter war viele Jahre Bergführer. Sein Hauptbetätigungsgebiet: das Passeiertal zwischen den Ötztaler Alpen an der Westseite und den Sarntaler Alpen im Osten. Das Tal der Passer zieht sich von der Meraner Gegend bis hoch zum Timmelsjoch mit seinen stillen Bergseen und vergletscherten Dreitausendern – eine ideale Spielwiese für Aktiv-Urlauber. Es muss ja nicht unbedingt Rafting, Canyoning und Tarzaning sein – man kann auch ganz normal herumlaufen.

Im Vergleich zum benachbarten Ötztal, wo pro Jahr mehr als zwei Millionen Nächtigungen gezählt werden, ist das Passeiertal eine stille Region geblieben, in der es noch Bauernhöfe gibt, die nicht über eine Straße erreichbar sind, in der man beim Wandern oft einen ganzen Tag lang nur ein paar Ziegen trifft.

Am Hirzer, dem Hausberg von St. Martin im mittleren Passeiertal, schleppt eine Gruppe von Frauen riesige Trekkingrucksäcke bergan. Eine Etappe des Fernwanderweges E5, die Haupt-Alpenüberquerung von Oberstdorf nach Meran, führt durch das Hirzer-Gebiet. Die Damen haben offenbar zu viel eingepackt, und das bedauern sie jetzt lautstark auf diesem Steilstück.

Nur eine einzelne Frau läuft schein- bar mühelos mit nähmaschinenartigen Schrittchen schneller als alle anderen in Richtung Scharte, wo die E5-Wanderer pausieren. Ihre Füße stecken in einer Art Gummisocken mit kleinen Tütchen für jede einzelne Zehe – „Fivefingers“ nennen sich die Barfuß-Schuhe. Gore-Tex-Membran? Feste Stollenprofile? Knöchelhohen Schutz? Braucht Judith Leiter alles nicht. Die junge Frau aus Algund bei Meran läuft mit ihren Füßlingen über spitze Felsen, durch Matsch und Geröll, als würde sie barfuß über einen Rasen schlendern.

Sie hat sich an diesem sonnigen Tag freigenommen, um auf den Hirzer zu rennen. Bei einem Schneefeld ist allerdings Schluss: Die Gummisocken sind zu rutschig für die heikle Durchquerung.

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Auf dem Höhenweg rüber zur Mahd-Alm gibt es keine derartigen Gefahren. Murmeltiere pfeifen an den Hängen, laufen durch einen Wald aus blühenden Alpenrosen. Schon von weitem sieht man die orangefarbenen Liegestühle vor der Almhütte stehen, Kinder spielen im Gras, Hunde liegen im Schatten.

Die Wirtsleute der Mahd-Alm.
Foto: Enno Kapitza
Sepp und Maria Mair mit Tochter Juliane vor der Mahd-Alm.
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Kühe und Kaiserschmarrn

Sepp Mair hat in der kleinen Küche ziemlich viel zu tun: Der Hüttenwirt rührt Milch, Mehl, Eier und eine Prise Salz glatt für seinen berühmten Kaiserschmarrn. Die Milch kommt von den vier Kühen, die Sepp hier oben von Mai bis November hütet, in der Hütte helfen ihm seine Frau Maria und Tochter Juliane, die trotz des Andrangs an diesem besonders schönen Tag immer lustig bleibt.

Links rauscht ein Wasserfall, geradeaus schaut man auf den Gipfel des Hirzer, das Geklirre von Geschirr mischt sich mit dem Bimmeln von Kuhglocken. Ein traumhafter Platz für Bergfans. „Und ein Traumjob für mich“, sagt Sepp Mair, „obwohl es anstrengend und anspruchsvoll ist, Hüttenwirt zu sein.“

Morgens um fünf steht er im Sommer auf, um die Kühe zu melken, anschließend kümmert er sich um die Graukäse-Herstellung, macht Butter und bereitet die Küche für den Mittagsbetrieb vor. In Ruhe hinsetzen? Kann er sich oft erst am Abend, wenn die Wanderer wieder im Tal sind. „Ich bin Handwerker, Bauer und Koch in einem“, sagt der Hüttenwirt, während er einen großen Löffel flüssige Butter über den Kaiserschmarrn in der gusseisernen Pfanne kippt. Nichts für Zimperliche.
 

Saftiger Kaiserschmarren in einer Pfanne.
Foto: Enno Kapitza
Die Spezialität des Hauses: Kaiserschmarrn.

Zurück in der Passerschlucht, dem natürlichen Abenteuerpark, in Jahrmillionen vom Wasser der Passer geformt. Man muss hier nicht unbedingt herumklettern, um die spektakulären Felsformationen zu besichtigen.

Freundlicherweise wurde ein Steig in die Schlucht gebaut, auf dem man gehen kann, ohne Lianen benutzen zu müssen. Treppen und Brücken führen über Engstellen, vorbei an senkrechten Felswänden zu Aussichtspunkten hoch über dem sprudelnden Wasser.

Mitten in der Schlucht steht man plötzlich vor einer gigantischen Dusche: Der Stuller Wasserfall, der dritthöchste Europas, rauscht über mehrere Stufen 342 Meter in die Tiefe. Tarzaning? Vielleicht beim nächsten Mal. Kommt auch ein bisschen auf Jane an.

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