Unterwegs im Tiroler Zillertal
Ein paar der über 500 Pistenkilometer hinunterwedeln oder eine einsame Spur in den Hang setzen. Ein Rundgang zu den schönsten Gipfeln, vom Penken bis zum Olperer – mit Rodel, Powderlatten und Paragleiter.
Simon Schöpf für das Bergweltenmagazin Dezember/Jänner 2019/20
Skitour mit Herz
Markus Kröll und sein Herrgott
Wenn man mit Markus Kröll eine Skitour vereinbaren will, kann schon einmal eine außergewöhnliche Antwort aus dem Telefonhörer kommen: „Ja, gern, aber vorher muss i no schnell an Herrgott abholen.“ Nicht dass man jetzt unbedingt einen Schutzengel bräuchte, wenn man mit Markus ins Gelände startet – allerhöchstens göttlichen Beistand, wenn man dabei versucht, mit ihm Schritt zu halten, denn er gehört zur Weltelite der Bergläufer.
Nein, Markus ist vom Brotberuf Restaurator, der letzte im Zillertal. Ob alte Fresken in einer Mayrhofner Kapelle oder die Lüftlmalerei an einer Zillertaler Skihütte für die Olympischen Winterspiele 2022 in Chinas Hauptstadt Peking – Markus malt. Und die holzgeschnitzte Jesusstatue, die er jetzt wieder auf Hochglanz bringen soll, hat eben auch schon ein paar hundert Jahre auf dem Buckel.
„Aber wenn der Pulver einmal gut ist, dann pfeif i aufn Herrgott“, versichert Markus. Es gibt ja schließlich Wichtigeres, nämlich das Hier und Jetzt. Und gut ist der Schnee heute allemal. „Boah, so an Winter weiß i scho lang nimma!“ Gute drei Meter liegen allein schon unten im Tal. Auf den Dächern von Markus’ Heimatdorf Ginzling türmt sich der Schnee aber dermaßen hoch, dass man Angst hat, die Häuser würden jeden Moment unter der Last zusammenbrechen.
Seine Kindheit verbrachte Markus Kröll am Gasthof Breitlahner, vom Dorf ein paar kurvige Kilometer taleinwärts Richtung Schlegeisstausee – nach wie vor wird das Haus von seinem Onkel bewirtschaftet. Aber heute kommen wir dort mit dem Auto gar nicht erst hin – ein großer Lawinenkegel versperrt die Zufahrt –, mit den Tourenskiern allerdings sehr wohl. Und wenn man die Landschaft um den Gasthof Breitlahner betrachtet, wird schnell klar, warum sich Markus zu einem derart fitten Trailrunner entwickelt hat.
„Flach is da heroben halt nit viel“, schmunzelt er. „Für zehn Schilling haben wir den deutschen Touristen in der größten Mittagshitze die Rucksäcke auf die Berliner Hütte getragen – a gutes Taschengeld.“ Und eine gute Grundlage für spätere Ziele – siebenmal hat er beim Extrem-Teambewerb Red Bull Dolomitenmann gewonnen, 32-mal wurde er schon Tiroler Meister.
Den Berliner Höhenweg lief er in gut zwanzig Stunden – Normalsterbliche nehmen sich für den Weitwanderweg sieben Tage Zeit. „Das war schon hart am Anschlag“, meint Markus, „aber bei solchen Zielen bekommst einen Tunnelblick – es gibt nur Training, Training, Training, sonst nix. Aber die Zeiten sind vorbei, jetzt tua i genießen.“
Seine neugewonnene Euphorie lässt er auch gern alle spüren: „Na, is des nit gewaltig!“, „A so a schians Tagl!“, „Wia des schian is!“ Im Fünfminutentakt sprudelt die Bergbegeisterung über seine geliebte Zillertaler Winterlandschaft aus dem Blondschopf, stets verbunden mit einem breiten Grinsen. „Mei Frau versteht des oft nit, warum mi des so g’freit. Aber schau di amal um, wie schian’s da is.“ Ungebremste Freude trotz stolzer 150 Skitouren pro Saison – oder, anders ausgedrückt, an so ziemlich jedem Wintertag.
Markus’ Begeisterung ist gleichermaßen echt wie ansteckend – immer kleiner wird der Schlegeisstausee im Talschluss unter uns, bald schaut er aus wie ein tief verschneiter norwegischer Fjord. Wir ziehen unsere einsamen Spuren vorbei an der prächtig gelegenen Olpererhütte, die im Winter im Dornröschenschlaf liegt. Dennoch: Ein Schluck Tee auf ihrer Sonnenterrasse muss natürlich sein.
Rings um uns türmen sich die ganz großen Zillertaler Gipfel zu einer imposanten Arena auf: der Hochfeiler mit seiner mächtigen Nordwand, der vergletscherte Große Möseler am Zillertaler Hauptkamm, der formschöne Olperer. Und daneben gleich der Schrammacher, den man von dieser Seite glatt mit dem Matterhorn verwechseln könnte, Hörnligrat inklusive. Allesamt ruhende Giganten, um die 3.500 Meter hoch, und wir in der Mitte, ganz klein.
Das Faszinierendste an dieser Landschaft ist aber die unglaubliche Weite, in der man sich bewegt – und wenn man meint, es könne nicht noch schöner werden (Markus: „Aiiiii, brutal, so schian!“), dann wachsen nach ein paar Höhenmetern mehr die Südtiroler Dolomiten über den Horizont. Beim Abfellen schaut uns der Langkofel aus der Ferne zu. Und plötzlich bricht bei Markus wieder die einprogrammierte Rennroutine durch – die Felle sind schneller von den Skiern gezogen, als Lucky Luke seinen Schatten durchlöchert.
Und dann, beim ersten Eintauchen in ein Meer aus unverspurtem, fluffigem Weiß, hört man Markus’ Jauchzer langsam leiser werden. Ein beherztes „Juppaduuuu!“ in jeder langgezogenen Kurve, und man weiß, da ist einer in seinem Element. Der Herrgott wird’s ihm später danken.
Freeriden wie die Pros
Auf Abwegen in Hochfügen
Am nächsten Morgen bedanken sich die Oberschenkel gründlich für die Idee, auf Skitour zu gehen mit einem, der jedes Jahr 700.000 Höhenmeter „nur so zum Spaß“ abspult. Da kommt die 8er-JetGondelbahn in Hochfügen genau richtig. Wir stolpern noch etwas schlaftrunken in die erste Kabine.
Früh aufstehen gehört hier zum erwarteten Spirit – das Skigebiet Hochfügen am Anfang des Tals hat sich als Freeride-Mekka des Zillertals etabliert. Die Konkurrenz um die First Line schläft eben nicht länger. „Der große Geheimtipp von früher is es halt nimma. Aber ’s Geniale da heroben is der Talkessel“, erklärt uns unser junger Guide Andi Lindner, während wir uns nach einem zweiten Espresso sehnen. „Wir haben hier Hänge in allen Expositionen. Guten Schnee findet man so gut wie immer.“
Zusammen mit Andi bucht man die Garantie auf Powder. In Fügen geboren und in Hochfügen aufgewachsen, kennt Andi jeden Hang und jede Variante. Heute machen wir „an kloan Spaziergang“ auf den Metzen, wie er es nennt. In den letzten Jahren fanden auf der Direttissima vom Gipfel die Qualifikationen für die prestigeträchtige Freeride World Tour statt.
Die satten Cliffdrops lassen wir getrost aus, wir setzen unsere Turns stattdessen lieber in die wunderbar breiten Rinnen. Aber um dort hinzukommen, heißt es erst einmal Ski auf den Rücken und den Grat entlangstapfen. Der Pulverschnee will verdient sein.
„Koa Angst – am Gipfel gibt’s dann an Selberbrenntn“, verspricht uns Andi. Sogar der Williamsbrand kommt heute direkt aus Fügen. Nach einem vorsichtigen Schluck aus dem Flachmann und einer Verschnaufpause ziehen wir dann wie versprochen die ersten Spuren in den Hang, das frühe Aufstehen hat sich gelohnt.
Pisten und Legenden
Der Meister des Parallelschwungs
Stärkung danach? Verdient! In der Granatalm am Penkenjoch hoch über Finkenberg steht dafür genau das Richtige auf der Speisekarte, nämlich die traditionellen Zillertaler Krapfen, wenig zimperlich, was die Graukas-Fülle betrifft. Weil man davon leider immer ein paar Stück zu viel verschlingt, bleiben unsere Bretter erst einmal im Skiständer, und wir peilen einen regenerativen Verdauungsspaziergang hinüber zur Granatkapelle an.
Der 2016 vom Schweizer Stararchitekten Mario Botta entworfene Bau hat die Form eines Rhombendodekaeders, oder: Er versucht sich als überdimensionaler Granat zu tarnen, ein tiefroter Halbedelstein, der früher im hinteren Stilluptal und im Zemmgrund gesammelt wurde und noch heute häufig als traditioneller Trachtenschmuck im Zillertal getragen wird.
Unsere erleuchtende Begegnung sollen wir schon vor dem Kapellenbesuch bekommen, nämlich beim Queren der Skipiste gleich neben dem Kinderlift. Dort steht einer, braungebrannt wie Mike Krüger und mit den Augenbrauen eines Grizzlybärs: der Hafner Hans, mit 77 Jahren der älteste Skilehrer im Zillertal und der Einzige weit und breit, der die grelle Bergsonne ohne Sonnenbrille ertragen kann. „I han nia oane g’habt, meine Augen werden alleweil nur besser!“
Seit 56 Jahren unterrichtet er den Parallelschwung. „Im Frühling weart aber dechtasch amal a nuichs Knia fällig“, meint er gelassen. Hans ist einer der wenigen Aktiven, die sich noch lebhaft an die Ursprünge des Skifahrens im Zillertal erinnern. Als er anfing zu unterrichten, da gab’s noch keinen einzigen Lift im Tal, Anzahl der Pistenkilometer: null.
„Mia ham uns halt immer an kloanen Hang angstapft – des war dann unsere Piste fürn Tag.“ Heute kaum mehr vorstellbar – 535 Kilometer blau bis schwarz, 180 hochmoderne Liftanlagen durchziehen das Tal. Die Liftanlagen sind mittlerweile so miteinander verschmolzen, dass man oft gar nicht mehr weiß, in welchem der vier großen Skigebiete man eigentlich gerade seine Kurven zieht. Aber auch sicherheitstechnisch hat sich in den letzten fünfzig Jahren so einiges getan. „Früher war ’s Skifahren no viel g’fährlicher, die Anfängerlatten waren ja 2,05 Meter lang! Mein Rekord waren fünf Verletzte in einer Woche.“
Auch den wohl berühmtesten Sohn des Zillertals kennt Hans bestens: Mit Extrembergsteiger Peter Habeler ist er gemeinsam zur Schule gegangen, und auch in derselben Fußballmannschaft, beim SVG Mayrhofen, haben sie als Jugendliche gekickt. „Der Peter war Stürmer, i Verteidiger. Er war eigentlich in allem spitze, was er ang’fasst hat: Fußball, Tennis, Bergsteigen. Irgendwann hat er sich dann ganz für den Alpinismus entschieden.“
Gott sei Dank, denn mit der Erstbesteigung des Mount Everest gemeinsam mit Reinhold Messner und ohne künstlichen Sauerstoff brachte Peter Habeler ein kleines Stück Mayrhofen auf den höchsten Punkt der Erde und Alpingeschichte zurück ins Zillertal.
Geschmeidig fliegen
Die ruhige Seite des Zillertals
Wenn es um dünne Luft und Zähigkeit am Berg geht, kann neben dem Markus Kröll auch ein anderer im Tal gut mitreden: Knackige 13-mal schaffte Günter Burgsteiner die 1.300 Höhenmeter von Mayrhofen hinauf zur Ahornbahn-Bergstation – innerhalb von 24 Stunden. Insgesamt ergibt das einen Weltrekord im Skibergsteigen, der seit nunmehr fünfzehn Jahren hält.
Auch sonst ist Günter gern kreativ bei seinen Ausdauerprojekten: Einmal radelt er vom Zillertal mit dem Fahrrad bis nach Chamonix, um im Anschluss den Mont Blanc zu besteigen, das nächste Mal geht’s per Rad gleich bis nach Teheran und zu Fuß weiter auf den Damawand, den höchsten Berg des Iran.
Nur zwei Unterkapitel im Leben eines Weltenbummlers par excellence, der schon in Alaska HeliskiGuide war und mit dem Stand-up-Paddle die finnische Seenplatte durchquerte. Wir treffen ihn zusammen mit seiner ebenso weitgereisten Frau Barbara Weitzenböck vor der Kristallhütte, die mit basslastigen House-Beats ein wenig Ibiza-Feeling auf 2.147 Metern versprüht.
Gekommen sind wir aber nicht wegen der Schirmbar, sondern wegen eines Schirmes aus buntem Nylon. Zum Abschluss wollen wir uns das Zillertal von noch weiter oben anschauen – Günter und Barbara haben die exklusive Lizenz für den höchsten Paragleit-Startplatz im Tal.
Und der ist genau da, wo das Tal einen leichten Knick nach Westen macht, bei Zell am Ziller. Von ihrem Garten sehen sie jeden Tag hier herauf. „Also haben wir einfach unseren Hausberg zum Flugberg gemacht. Von Strass bis Tux – aus der Luft siehst du von da heroben das komplette Zillertal in seiner ganzen Pracht“, schwärmt Günter.
Oft gibt’s hier schon ab Mitte Februar gute Thermik um die Mittagszeit, die wir natürlich verpasst haben, weil wir zu lange auf den Skiern unterwegs waren. Aber 1.650 Höhenmeter bis hinunter nach Zell sind auch im GleitÞug eine stattliche Erfahrung. Und erst einmal abgehoben, sagt Barbara den schönen Satz: „Die Luft is scho a sehr g’schmeidiges Element.“
Sie weiß, wovon sie redet. Barbara ist diplomierte Kunstpädagogin, immer auf der Suche nach neuen Perspektiven – und als Frau im Flugsport eine Ausnahmeerscheinung. „Es gibt nur rund fünf Prozent Frauen unter den Tandempiloten. Viele trauen sich die mentalen und körperlichen Anforderungen nicht zu. Fliegen kann auch Knochenarbeit sein.“
Trotz ihrer großen Leidenschaft gibt’s da aber noch einen Traum: einmal in einem LeichtÞugzeug die ganze Welt umrunden. Das fehlt den beiden Globetrottern noch im Abenteuer-Portfolio. Wahrscheinlich könnten sie morgen früh einfach so abheben und würden es schaffen.
Erst wenn man lautlos hoch über dem Zillertal schwebt, überblickt man das gesamte Terrain, das wir in den letzten Tagen erkundet haben: das endlose Skitourengelände im Olpererkar, die genialen Freeride-Spots in Hochfügen, die Skischule vom Hafner Hans am Penken. Scho a g’schmeidiges Platzerl, das Zillertal.
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Südtiroler Schlutzkrapfen
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Mit Skiern quer durch Tirol