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Foto: Andreas Lattner
Mehrtages-Skitour

Skitour durch das Tote Gebirge

• 30. Oktober 2021
5 Min. Lesezeit

Wer über das Tote Gebirge schreitet, entdeckt einen der stillsten Winkel der Alpen – und ein Stück weit auch sich selbst.

Marlies Czerny für das Bergweltenmagazin Dezember/Jänner 2019/20

Acht der zehn Eier haben überlebt, immerhin. Die Idee, den müden Körper vor der tief verschneiten Wildenseealmhütte erst einmal auf den Rucksack fallen zu lassen, war nicht das Gelbe vom Ei. Die darin verstaute Daunenjacke ist es jetzt umso mehr: dottergelb. Zum Glück bleiben im Karton genau so viele Eier heil, wie wir für den Kaiserschmarrn und vier hungrige Skitourengeher brauchen.

In diesen drei Tagen wird’s uns nämlich an allem fehlen, was die mancherorts überzivilisierte Bergwelt ausmacht: an Schleppliften, schmackhaften Hüttenmenüs und scharenweise Tourengehern. An einem aber sollte uns besser nicht mangeln: an Energie und Treibstoff. Immerhin wollen wir die größte Karsthochfläche Europas überschreiten, das Tote Gebirge – und da müssen wir uns selbst versorgen.

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Die Haute Cuisine auf unserer Haute Route von der Steiermark nach Oberösterreich sieht so aus: Als Vorspeise gibt’s ein Bauernbrot mit Verhackertem, dazu einen Zweigelt aus bunten Bechern, der Jetboil wird morgens zum Espressokocher umfunktioniert, und dazu ein Germstriezel mit Mamas Marillenmarmelade. Bevor der Genuss leidet, sollen es lieber unsere Hüften und Schultern tun. 

Bergsteiger aufgereiht in einer Schlange.
Foto: Andreas Lattner
Auf dem Hochplateau des Toten Gebirges zieht man einsame Spuren über sanfte Hügel.

Es ist gewissermaßen auch eine mentale Strategie, wenn der Rucksack von Tag zu Tag leichter wird, während die Beine immer schwerer werden. Am Fuße des Losers gleiten wir noch leichtfüßig über den Altausseer See, allerdings auf dünnem Eis. „Krächzt du so, Michi?“ – Nein, es ist der Untergrund, der uns vor einem Einbruch warnt. Also schnell wieder ans sichere Ufer. Unter den mächtigen Wänden der Trisselwand steigen wir immer höher bis zur Wildenseealm. Sie schlummert tief im Winterschlaf, zugedeckt mit einer drei Meter dicken Schneedecke.

Die Kulisse für ein Märchen könnte nicht hübscher sein – nur die Hüttendächer schauen schüchtern aus den weißen Flocken heraus. Die Alpenvereinshütte haben wir schnell gefunden: Der Eingang ist bereits freigeschaufelt und der Kachelofen eingeheizt. Wer wird denn schon hier sein? Der Feierabend darf aber erst mit Kaffee und Wafferln in der Nachmittagssonne vor der Hütte beginnen. Als die Sonne verschwindet, huschen wir in den warmen Winterraum.

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Die Wand hinter dem Kachelofen schmückt eine gusseiserne Pfanne. Damit gelingt uns Haubenköchen tatsächlich so etwas wie ein Kaiserschmarrn. Das junge Pärchen aus Oberösterreich, das hier Vorarbeit geleistet hat, ist einen Tag vor uns in Bad Ischl gestartet. Lena und Jonas werden die Einzigen bleiben, denen wir in den nächsten Tagen begegnen – von einem Jäger in der Nachbarshütte, zwei Gämsen und drei Schneehühnern abgesehen. 

Ein Tourengeher in voller Montur.
Foto: Andreas Lattner
Evelyn genießt die Wintersonne und bewundert den Ausblick auf die Alpenlandschaft.

Nach dem letzten Bissen breiten wir die Landkarte über dem gesamten Holztisch aus. Das Tote Gebirge braucht Platz, viel Platz. Es kommt fast auf die doppelte Fläche des Mont-Blanc-Massivs, 1.130 Quadratkilometer ist es groß. Es streift zwei Bundesländer, drei Bezirke, 17 Gemeinden und ragt am Großen Priel über 2.500 Meter zum Himmel.

Unsere Köpfe rauchen, wo genau am Hochplateau wir unsere weitere Spur ziehen wollen. Evelyn Steiner hat von dieser Überschreitung schon länger geträumt. Die begeisterte Tourengeherin blickt sowohl von ihrem Zuhause als auch von ihrem Arbeitsplatz aus direkt aufs Tote Gebirge – und schon der erste Abend hier oben bringt sie weit weg von ihren To-do-Listen.

„Du tauchst sofort ein in diese Stille und Einsamkeit und lässt vor allem eines hinter dir: den Alltag.“ Es fühlt sich für die 33-Jährige befreiend an, nur das dabeizuhaben, was sie selbst in ihrem Rucksack tragen mag, „und so viel ist das gar nicht“. Das Skitourengehen wird zwar von immer mehr Menschen entdeckt, im Toten Gebirge aber findet man noch Einsamkeit. „Vor vierzig Jahren gab es mehr Almwirtschaft hier oben, und da waren im Winter auch noch mehr Leute auf der Überschreitung unterwegs“, erzählt Helmut „Heli“ Steinmassl, der quasi an einer Zehenspitze des Toten Gebirges in Spital am Pyhrn zu Hause ist. „90 Prozent aller Tourengeher gehen aber ohnehin lieber dort, wo andere Leute unterwegs sind.“

Der Berg- und Skiführer gehört zu den restlichen 10 Prozent und zieht am liebsten einsame Spuren. „Im Toten Gebirge gibt’s noch die unberührtesten Flecken im Alpenraum zu finden“, sagt Heli – und kann an dieser Stelle stundenlang weitererzählen: von griesgrämigen Jägern bis hin zu extrem steilen Abfahrten.

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Bergsteiger essen zu Abend.
Foto: Andreas Lattner
Nach einem Tag auf Tourenskiern schmeckt der selbst gemachte Kaiserschmarrn im Winterraum der Wildenseehütte.

Endloser Winter

Helmut Steinmassl kennt aber auch die inneren Werte des Toten Gebirges sehr gut – er hat sie als Höhlenforscher entdeckt. Unter der tief verschneiten Karsthochfläche befinden sich hunderte Kilometer lange Höhlensysteme. An der Oberfläche lauern Schächte und Dolinen. Bei guter Schneelage stellen sie keine Gefahr dar, bei dünner Decke werden sie tückisch wie Gletscherspalten. Das ist aber nicht der Grund, weshalb das Tote Gebirge seinen pathetischen Namen trägt.

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Im Karst inmitten der Hochgebirgsfläche ist nur wenig Leben möglich. Es fließt kein Wasser, es wachsen kaum Pflanzen. „Und mehr als die Hälfte des Jahres ist dort oben Winter.“ Die dichten Latschen sind völlig unter dem Schnee begraben. Ein paar Lärchen und Fichten halten noch Wache um die Wildenseehütte im westlichen, steirischen Gebirgsteil.

Der Nachthimmel ist kaum von Licht verschmutzt und lässt Sterne und Mond heller leuchten, als man es daheim je sehen könnte. 

Die Bergsteiger marschieren durch den Wald.
Foto: Andreas Lattner
Mit den ersten Sonnenstrahlen macht sich auch Michael wieder auf den Weg.

Früh am Morgen färbt sich der Horizont am nahen Dachstein hellblau und zartrosa wie ein Babyzimmer. Evelyns Augen leuchten: „Normal bist du so früh ja noch nicht so hoch oben am Berg.“ Keine zwei Stunden später stehen wir auf dem Gipfel des Redenden Steins und haben uns recht wenig zu sagen.

Sprachlos drehen wir uns einmal um die eigene Achse – und da ist weit und breit nichts anderes mehr zu sehen als winterliches Weiß. Man kann nur erahnen, dass hinter den Höhepunkten des Plateaus wie dem Zwölferkogel, dem Schermberg und dem Großen Priel steile Wände bis zu 1.400 Meter tief in die Täler fallen.

Wir sind auf einer Insel der Seligen gestrandet. Die vielen Buckel und Mulden am Plateau wirken wie sanfte Wellen. Vereinzelt werfen Felsinseln den Schatten einer Haifischflosse, und wie eine steile Brandung stellt sich der Salzofen dazwischen. Hinter uns und vor uns: eine endlose Winterlandschaft. Nach fünf Stunden Spurarbeit und zwei kurzen Abfahrten – eine im Pulver, eine im Firn – erreichen wir die Pühringerhütte hoch über dem Grundlsee. Heute sind wir dran mit Aufsperren, Feuermachen und Schneeschmelzen.

Die Hütte ist im Winter nur mit einem Schlüssel zugänglich, den man sich beim Alpenverein ausleihen kann. Wir bringen Wärme in die kalte Stube und mit Nudeln, Zwiebeln und Speck auch in unseren Magen. „Man muss ein bisschen etwas auf sich nehmen, um so etwas zu erleben“, sagt Michael Steiner, nachdem er die letzten Holzscheite klein gehackt und die Axt beiseitegelegt hat. „Dafür bekommt man ein traumhaftes Erlebnis, an das man sich bis ans Lebensende erinnern wird.“
 

Bergsteiger spazieren am See entlang.
Foto: Andreas Lattner
Selten schön: In Altaussee geht es nicht am Ufer entlang, sondern direkt über das Eis des zugefrorenen Sees.

Schneller als die Schneewolken

Der Himmel ist am nächsten Morgen nicht mehr so ungetrübt wie unsere Stimmung. Eine Front schiebt sich früher als erwartet über das Tote Gebirge. Wir wollen schneller sein als die Schneewolken. Wird man von ihnen eingehüllt, ist man am Plateau trotz einiger Markierungsstangen schnell verloren.

Also hinein in die dottergelbe Jacke, Felle auf die Ski – die umliegenden Gipfel lassen wir links und rechts liegen. Einsame und eindrucksvolle Kilometer später wartet unsere längste und rassigste Abfahrt ans andere Ende des Toten Gebirges: durch die Dietlhölle hinab nach Hinterstoder. Die Oberschenkel brennen wie Feuer – und wir finden das höllisch gut. So bleiben wir zwangsläufig öfters stehen und staunen über die steilen Abbrüche entlang der Abfahrt.

Dass sich der Skibus beim Dietlgut nur Minuten nach uns einbremst, passt perfekt ins Après-Ski-Programm. So sind wir schneller in der „Fleischerei“, die nichts mit toten Tieren zu tun hat, sondern unser Lieblingscafé ist. Die obligatorische Nachbesprechung reicht von „Wundersche, aber zach“ über „Wer hat gestern g’schnarcht?“ bis zu „Wie oft geht ma scho mit Ski über an See“. Nur der Vorschlag „Gemma morgen wieder z’rück zum Auto?“ geht zwischen dem Anprosten irgendwie unter.

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