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Foto: Bernhard Fiedler
Abenteuer

Klettern auf den Hausbergen von Wien

• 3. November 2021
5 Min. Lesezeit

Nirgends sonst lässt sich das urbane Flair einer Millionenstadt so gut mit alpiner Abenteuerlust verbinden wie in den Hausbergen von Wien.

Florian Scheimpflug für das Bergweltenmagazin Februar 2017

Beginnen wir mit einem Geständnis: Giganten sind Hermannskogel, Dreihufeisenberg und Leopoldsberg, jenes Dreigestirn, das die höchsten „Berge“ Wiens bildet, keine. Angesichts einer Seehöhe von maximal 542 Metern geht der Begriff „Berg“ selbst dem stolzesten Wiener nur mit Mühe über die Lippen.
 

Andrea Marina in der Steilwand.
Foto: Bernhard Fiedler
Badetag oder Klettertag? Dank Schwarza geht beides. Andrea Maruna freut sich in der Wasserverschneidung (6+) schon auf den Sprung ins kühle Nass danach.
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Dass sich innerhalb des Stadtgebiets keine „echten“ Berge befinden, daran hat man sich in Österreichs Hauptstadt noch nie gestoßen. Viel wichtiger als die vom Eich- und Vermessungsamt festgelegte Stadtgrenze ist schließlich die emotionale.

Und anhand dieser ergibt sich für jene, die in der Stadt leben, deren Herz aber ebenso fürs Draußen sein schlägt, auch eine ganz andere Topografie der Berge Wiens. Eine, die nicht in Vösendorf an der Südausfahrt der Stadt endet, sondern vielmehr weite Teile des südlichen Niederösterreich umfasst, vor steirischen Grenzgebieten nicht haltmacht und ein großzügiges alpines Einzugsgebiet aufspannt: das der „Wiener Hausberge“.

Wer „Wiener Hausberge“ sagt, hat meist deren prominenteste Vertreter Rax (2.007 m) und Schneeberg (2.076 m), die beiden östlichen Zweitausender der Nördlichen Kalkalpen, sowie die nahe gelegene Hohe Wand im Sinn.

Einige Bäume am Berg.
Foto: Bernhard Fiedler
Lichte Föhren und weiches Licht beim Zustieg zum Großofen.

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Trotz der Nähe zur Metropole sind die Wiener Hausberge weit davon entfernt, ein überlaufener Outdoor-Vergnügungspark zu sein. Eine Besonderheit dieser teils schroffen, teils unzugänglichen Landschaft liegt darin, dass sie sich in vielen Ecken und Enden ihre Wildheit bewahrt hat. Leicht kann man in ihr verloren gehen; und nicht von ungefähr kommt es, dass die Bergrettung am Schneeberg gemessen an der Zahl ihrer jährlichen Einsätze landesweit an zweiter Stelle liegt.

Verlieren kann man sich hier allerdings auch im positiven Sinn. Wer nach Stille und Einsamkeit sucht, wird sie in dieser Weitläufigkeit finden.

Wichtig ist natürlich auch: Kein Bewohner der Region, kein Reichenauer, Puchberger oder Guteinsteiner, würde sich dazu hinreißen lassen, die Erhebungen des Alpenostrands als „Wiener Hausberge“ zu bezeichnen. In der Nähe örtlicher Stammtische sollte man mit dieser Bezeichnung also nicht herumwerfen, erst recht nicht, wenn man aus Wien ist.

Christine Wu, die Klettererin.
Foto: Bernhard Fiedler
Nach getaner Arbeit freut sich Christine Wu auf ein entspanntes Après-Climb im Weichtal.

Zwischen den Bergen

Rax und Schneeberg mögen die landschaftsprägenden Erscheinungen der Gegend sein, doch was das Klettern betrifft, verbergen sie eher den Blick auf das Wesentliche, als dass sie es demonstrativ feilbieten würden. Kompakten Fels und steile Wände findet man weniger an, sondern eher zwischen ihnen. Genauer gesagt, an den unzähligen Sektoren des Höllentals, das von Hirschwang an der Rax bis in das 16,5 Kilometer entfernte Schwarzau im Gebirge reicht.

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Auch die Kletterchronik des Rax-Schneeberg-Gebiets trägt diesem Umstand Rechnung. Sie beginnt in den 1880er-Jahren mit Begehungen der Luckerten Wand bei Prein (1881 durch Daniel Innthaler), deren Wiederholung einer Anekdote zufolge durch den Einsatz von Sprengstoff (vergeblich) zu verunmöglichen versucht wurde, und des Bürklesteigs (3+, Erstbegehung 1884 durch Ferdinand Bürkle), der von Puchberg auf den Schneeberg führt.

Spätestens seit der vorletzten Jahrhundertwende wird die Klettergeschichte jedoch an den im Höllental gelegenen Wänden geschrieben, wie sich am Stadelwandgrat (3, Erstbegehung 1899 durch Ferdinand Bürkle), an der Stadelwand oder am Wiener­-Neustädter­-Steig (4, Erstbegehung 1902 durch Otto Laubheimer und Viktor Schwenk) an der Hinteren Loswand erkennen lässt.
 

Julia vor atemberaubenden Bergpanorama.
Foto: Bernhard Fiedler
Auf den letzten Metern des Altknechts (9–/9) an der Blechmauer hat Julia kaum Zeit für das atemberaubende Panorama.
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Das Lose und das Feste

Dank ihrer Steilheit, Exponiertheit und Höhe hat sich an ihrer Attraktivität bis heute wenig geändert. Vom Groß­- bis zum Wasserofen, von der Stadel­ bis zur Gaisbauerwand und von der Blechmauer bis zu den Lechnermauern, dem entlegensten und nur mit Augenzwinkern zum Höllental zu zählenden Sektor, finden Kletterer 2.000 Routen an bis zu 500 Meter hohen Wänden vor.

Fels gibt es im Höllental also in Hülle und Fülle, doch was dessen Qualität betrifft, scheiden sich die Geister. „Charakterfels“ meinen stolz die einen, „grasiger Bruchhaufen“ schimpfen die anderen. Beide Standpunkte haben nicht nur etwas für sich, sie können auch als Seiten derselben Medaille bezeichnet werden. Bombenfester, kompakter Kalk ist im Höllental zwar weit verbreitet, doch nicht selten kommt es vor, dass man ihn sich erst über die berühmt­-berüchtigten Steilschrofen oder Graswände „erarbeiten“ muss.

Was leicht scheint, gerät dann oft schwieriger, als man es sich wünscht. Andererseits haben auch die „raxtypischen“ Meter ihr Gutes. Denn gerade in diesem klassischen Gelände ist Aufmerksamkeit und das ernsthafte Bei­-der-­Sache­-Sein gefordert. Hier lernt man sicher und ohne Selbstüberschätzung zu klettern – und wer sich im alpinen Ambiente der Wände zwischen Rax und Schneeberg zu bewegen weiß, der wird auch im Gesäuse, im Wilden Kaiser oder in den Dolomiten nicht böse überrascht werden.

Die Selektivität des Felsmaterials hat auch ihre gute Seite: Trotz Kletterboom bleiben den Routen im Höllental Massen­anstürme erspart, und nur wenige Klassiker weisen eine unangenehme Patina auf.

Zwei Kletterer an der steilen Wand.
Foto: Bernhard Fiedler
Flo und Julia genießen die Ausgesetztheit hoch droben in der Blechmauer.

Gaisbauerwand und Blechmauer

Die Schwierigkeit im Höllental ist, sich bei der unübersehbaren Vielfalt der Routen für eine zu entscheiden. Abenteuerklettern oder athletische Züge an ultrakompaktem Kalk? Zwei kürzere Routen oder doch lieber eine längere? Erfrischender Sprung in die Schwarza und Apfelstrudel am Nachmittag oder Ausstiegslänge im Sonnenuntergang?

Wir sind aus Wien herausgefahren, um einen Tag an den Wänden des Höllentals zu verbringen. Ivo und Christine entscheiden sich für die überhängende Gaisbauerwand, an der sich Touren mit bis zu sechs Seillängen meist im achten Grad finden. Zustieg ab Parkplatz: fünf Minuten. Auch das „Vietnam-Wandl“ oberhalb der Schwarza wäre eine Möglichkeit. „Aber da ist die Andrea heute unterwegs“, weiß Christine.

Was außerdem für einen Tag an der Gaisbauerwand spricht: Ihre unzähligen Dachkanten eignen sich perfekt für Ivos Signature Move. Das Ein-Meter-neunzig-Kraftpaket besitzt nämlich die Fähigkeit, in jeder Lebenslage spontan einen Einarmigen zu ziehen.

Julia und mir steht hingegen ein knapp viermal so langer Zustieg zur Blechmauer bevor. Ein hartes Los, aber dafür gibt’s eine Stiege. Die legendäre Schönbrunner-Stiege ist ein Relikt der frühen Höllental-Erschließung, Komfort und Erleichterung sucht man bei ihr jedoch vergeblich. Ihre 108 Stufen sind ein wahrer Pulstreiber, wo mehr Trittsicherheit gefragt ist als auf einem schottrigen, naturbelassenen Steig.

Atemberaubendes Bergpanorama.
Foto: Bernhard Fiedler
Blick von der Gaisbauerwand ins Höllental.

Kurz darauf sind wir am Wandfuß der Blechmauer. Ein dicht geknüpftes Routennetz durchzieht die wohl berühmteste, bis zu 250 Meter hohe Wand im Höllental. Unsere Wahl fällt auf die „Absurdistan“ (Schwierigkeitsgrad 8), im Jahr 2000 vom Rax-Haudegen Alfred Riedl eröffnet, eine seiner schönsten Hinterlassenschaften.

Vielerorts bilden Schrofengürtel einen Kordon um die Wandzonen. Zwei Seillängen in den berüchtigten, vom Morgentau feuchten Raxschrofen stehen bevor. Kein schwieriges Gelände, aber tückisch. Das bisschen Fels, dass man greifen kann, ist lose, die Absicherung unangenehm weit.

So arbeiten wir uns zum vielleicht schönsten und kompaktesten Teil der Blechmauer hoch. 200 Meter über dem Talboden zeigt sich in der letzten Länge der Kalk von seiner makellosesten Seite: hellgrau, strukturiert und bombenfest. Wir entschieden uns für eine Ausstiegsvariante über den Felspfeiler der benachbarten Route „Altknecht“, der die vielleicht schönsten und luftigsten Meter des Tals zu bieten hat. Ein Genuss, den man sich als Vorsteiger nicht entgehen lassen sollte – vorausgesetzt, man verfügt über die nötige Fingerkraft und Schwindelfreiheit.

Während Julia Meter um Meter den sonnigen Fels empor tänzelt, wird mir wieder einmal klar, dass sich nichts so gut anfühlt, wie hoch droben im Gemäuer am Stand zu hängen und umgeben von Luft und Licht die Gedanken schweifen zu lassen. Mehr braucht es auch schon nicht, um sich glücklich zu fühlen, hier, mitten im Tal.

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