Wandern auf La Réunion
Die Vielfalt der Kulturen, die Schönheit der Menschen, die Intensität der Natur: Wir unternehmen eine Erkundungsreise auf die französische Insel La Réunion – Europas Vorposten im Indischen Ozean zwischen Madagaskar und Mauritius.
Text: Martin Zinggl, Fotos: Philipp Schönauer
Die Reise-Story ist im Bergwelten Magazin erschienen.
Oui, oui, oui, überall auf der Insel duftet es!“ Jean-Paul Carminati pflückt ein ledriges Blatt vom Ast eines Pimentbaumes und zerreibt es zwischen seinen Fingern. Einen Moment lang ist die warme Brise gesättigt von Pfeffer-, Muskat-, Zimt- und Nelkenaromen. Berauschend, angenehm, exotisch. Die Nase hat sich hier ständig mit neuen Sinneseindrücken vertraut zu machen.
„La Réunion ist wie ein Labor, in dem Parfum entsteht“, schwärmt der Wanderführer aus dem Schweizer Jura und schneidet Grimassen. Ein paar Schritte weiter riecht es nach frischen Wildblumen, Kardamom und Zuckerrohr. Dann plötzlich nach Erde, die durch den warmen Tropenregen aufgeweicht wurde, nach Mangos,
Litschis und Passionsfrüchten, nach Räucherstäbchen und Heilkräutern. Und natürlich nach Vanille, mit der auf La Réunion alles angereichert wird: vom Hühnerragout bis hin zum nationalen Zaubertrank, dem „rhum arrangé“, einem mit Früchten und Gewürzen aromatisierten Rum.
Und manchmal riecht man auch Schwefel, denn der Berg Piton de la Fournaise zählt zu den aktivsten Vulkanen der Welt und „pupst“, wie die Réunionnais sagen, auch hin und wieder – zuletzt im September 2016.
„Aber das Schönste an La Réunion“, sagt Jean-Paul, „sind die Menschen. Oui, oui, oui.“ Rund 850.000 Bewohner zählt die Insel, ein Sammelsurium aus europäischen, indischen, afrikanischen und chinesischen Zügen, ein Gesicht hübscher als das andere.
Einst ein bloß menschenleerer grüner Felsen zwischen den nächstgelegenen Inseln Madagaskar und Mauritius, besiedelten vor rund 400 Jahren die Franzosen die Vulkaninsel im blauen Irgendwo des Indischen Ozeans.
Der geologischen Geschichte hat die Insel ihre drei spektakulären Talkessel zu verdanken: Die schroff abfallenden, zerklüfteten Felswände sind das Resultat eingesunkener Vulkane und mehrerer hunderttausend Jahre an Erosion, die diese landestypischen tiefen Schluchten regelrecht ausgegraben hat.
Eilige Eidechsen
Inmitten dieser Landschaft wandern wir auf einer der beliebtesten Routen ins Landesinnere: von Salazie nach Mafate, von einem dicht bewaldeten Talkessel in den nächsten. Sanfte Sonnenstrahlen steigen über den Horizont herauf und lassen Wassertröpfchen auf den Blättern glitzern. Bei jedem Schritt durch das Gebüsch strecken Eidechsen neugierig ihre Köpfe hervor, bevor sie sich eilig davonmachen.
Wieder einmal duftet es, aber diesmal ist der Geruch undefinierbar. „Oui, oui, oui“, sagt Jean-Paul. „Das ist der Duft der Freiheit. Bei uns auf La Réunion bedeutet die Farbe Weiß Freiheit.“
Wenig später klärt sich Jean-Pauls Gedanke von selbst. Der schmale Serpentinenpfad hinab in die Bergschlucht von Mafate ist gesäumt von Bambus, Kasuarinen, Tamarindenbäumen und wilden Ayapana-Blumen, ein Meer aus weißen Blüten, die für den Geruch sorgen, der Jean-Pauls Philosophie untermalt. Mitunter ist der gut beschilderte Weg felsig und steil, bevor er direkt in die mythische Plaine des Tamarins führt, eine von Akazien übersäte Ebene, deren Äste, wie hölzerne Adern ineinander verstrickt gegen den Himmel ragen.
Hier treffen wir auf Quentin Baron, einen „Métropole“, wie die Franzosen aus dem europäischen Mutterland auf der Insel genannt werden. Wenn er nicht in den französischen Alpen Schneekanonen repariert, vertreibt sich der 26-Jährige die Zeit mit Extremsport und Outdooraktivitäten.
Quentin ist in den Bergen zu Hause und besucht erstmals La Réunion. Stress scheint der goldene Lockenkopf nicht zu kennen. Was macht die Insel für ihn aus? „Es ist genial hier – ich kann wandern, baden und paragleiten.“ Nur auf das Surfen muss Quentin momentan verzichten, da La Réunion mit Haien zu kämpfen hat, die seit einigen Jahren für Unruhe sorgen: Sieben Todesopfer und insgesamt mehr als zwanzig Unfälle hatten die Insulaner seit 2011 zu beklagen.
„Drei Wochen sind einfach zu kurz“, sagt Quentin. „Vielleicht ziehe ich einfach nach Réunion. Die Lebensqualität ist sehr hoch hier, und die Menschen sind unglaublich offen – auch gegenüber den ‚Z’oreilles‘ (Anm.: von franz. „les oreilles“, „Ohren“), wie die Kontinentalfranzosen umgangssprachlich genannt werden, da sie ständig mitlauschen, aber kein Kreolisch verstehen. Rassismus oder religiöse Konflikte gibt es auf der Insel nicht. Hier leben die Menschen friedlich zusammen.“
Daher auch der Name der Insel? „Wahrscheinlich“, meint Jean-Pascal Hoarau. Er ist nicht nur Kreole, also auf La Réunion geboren, sondern auch gebürtiger Mafatais. Außerdem leitet er das legendäre Bistro „Mafate“ in La Nouvelle, dem Hauptort des Talkessels, eine gute Stunde Fußmarsch nach der Plaine des Tamarins. Dort versorgt der 43-jährige Informatiker seine Gäste mit selbst gemachten Köstlichkeiten.
Café au Lait oder Chai
Zeit für ein verspätetes Frühstück bei Jean-Pascal. Das Bistro „Mafate“ ist eine Holzhütte mit grauem Wellblechdach, an der Außenwand haben sich ein paar Spatzen ein Nest gebaut. Der Ort wirkt ein wenig surreal und erinnert an den Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“. Die Hintergrundmusik ist aber nicht das sanfte Klavierspiel von Yann Tiersen, sondern der lokale Inselpop Séga. Gute-Laune-Musik, bei der man an Blumenhemden, flatternde Röcke und lachende Gesichter denkt.
„Baguette und Café au lait“, fragt Jean-Pascal, „oder indischer Chai mit Samosas, scharf gewürzten frittierten Teigtaschen?“ Er selbst kann sich für keine der beiden Varianten entscheiden, da er beide lebt und liebt. Muss er aber auch nicht. Geboren in Mafate, war Jean-Pascal dreizehn lange Jahre Soldat in Südfrankreich, bevor es ihn wieder zurück auf die Insel verschlug. La Nouvelle verlässt er nur ungern, um manchmal im neun Stunden Fußmarsch entfernten Saint-Paul Computer zu reparieren. Demnächst wird sein Sohn in die „Métropole“ aufbrechen, um am Festland zu studieren. Wird Jean-Pascal ihm folgen? „Warum sollte ich?“, fragt er. „Ich bin ja bereits im Paradies.“
Er lacht. „Hier ist es ruhig und stressfrei. Und es gibt weder Autos noch Motorräder. Nur vormittags schneiden einige Hubschrauber in das Tal herein. Außerdem konnte ich mich nie an das kontinentale Klima und die verschiedenen Jahreszeiten gewöhnen. Auf La Réunion gibt es nur die Regen- und die Trockenzeit, aber die Temperaturen sind fast immer gleich.“
Besucher aus einer anderen Welt werden stets willkommen geheißen in dem verträumten Mafate, aber nicht umsonst ist es der einzige der drei Talkessel auf La Réunion, der nur zu Fuß erreicht werden kann – oder eben per Helikopter. Die rund 700 Bewohner bleiben gerne unter sich.
Nur wer hier geboren ist, darf auch in Mafate arbeiten. Dabei würde es an Gästen kaum mangeln. Zwar wird die angepeilte halbe Million an Besuchern seit Jahren nicht erreicht, aber mit 250.000 Touristen pro Jahr kann sich La Réunion nicht beklagen.
Klima im Kleinen
Das weiß auch Sylvia Vitry, die auf halber Strecke zwischen Mafate und dem höchsten Berg des Indischen Ozeans, dem 3.070 Meter hohen Vulkan Piton des Neiges, eine Berghütte betreibt. Die „Gîte de Bélouve“ ist eine Topadresse auf exakt 1.500 Meter Seehöhe, etwa sechs Stunden entfernt vom Vulkangipfel und inmitten des Urwaldes Forêt de Bélouve. Der beschwerliche Aufstieg durch den dichten Wolkenbergregenwald hält, was er verspricht: Wolken, Berge, Regen und Wald. Sehr viel grüner geht es nicht.
Nur wenige Orte auf der Welt bieten eine solche landschaftliche Vielfalt innerhalb von wenigen Stunden Fußmarsch. Vulkane, Urwälder, Hochebenen, Savannen, der Indischen Ozean und ein Dutzend verschiedene Mikroklimata.
Entlang des Pfades führt über unseren Köpfen ein rostiges Seil bis zum Panoramaplateau. Dort belohnen uns nicht nur eine alte Seilbahnanlage und ein herrlicher Ausblick über die schroffe Vulkanlandschaft, sondern auch ein Besuch in Sylvias Berghütte.
Schwere alte Eichentische, ein Kamin, Rotwein aus Bordeaux und deftige Hausmannskost. „Uns geht es sehr gut hier“, sagt die 33-jährige Geschichte- und Geografie-Absolventin. „Jeder Wanderer, der zwischen dem Vulkan und dem Urwald beim Trou de Fer marschiert, kommt irgendwann hier vorbei“, sagt Sylvia, die zwar gerne wandert, aber seit der Übernahme der Berghütte vor sechs Jahren nur noch selten dazukommt. „Sie kommen,
um in der Mehrbetthütte zu übernachten oder um unsere hausgemachten Spezialitäten zu kosten – Quiche mit Chayote, einer tropischen Kürbisart, oder Blutwurst-Cari, ein Reisgericht mit Bohnen und eingelegten Chilis.“ Sylvia, eine Kreolin, hat es erfolgreich geschafft, die französische Küche mit Insel-Ingredienzen zu vereinen.
Weltrekord-Regen
„Wir haben das ganze Jahr über geöffnet und sind auch zur Nebensaison oft ausgebucht, dem vielen Regen zum Trotz.“ Als ob das Wetter persönlich das gehört hätte, verfärbt sich der gerade noch strahlend blaue Himmel in ein düsteres Grau. Die Insel zeigt ihr wahres Gesicht: die Vielfalt der Mikroklimata. Kurz darauf regnet es in Strömen. In wenigen Stunden fallen im Landesinneren 88 Millimeter vom Himmel; zur selben Zeit baden an der Westküste Besucher bei Sonnenschein in der blauen Lagune von L’Ermitage-les-Bains. Sogar den Weltrekord an Niederschlägen hält die Insel im Indischen Ozean: 2007 hat es innerhalb von drei Tagen beinahe 4.000 Liter pro Quadratmeter geregnet.
Als sich der Regen wieder verabschiedet, strömt der Duft von feuchten Moosflechten und Farnen in die Nase. Über sattgrünen Hügeln hüllen sich die Gebirgskessel in dicke Nebelwolken, während über uns das Kreuz des Südens von dem klaren Sternenhimmel leuchtet. Ein letztes Mal genießen wir das Nationalheiligtum, rhum arrangé, bevor wir mit Vanille- und Zimtgeschmack im Mund einschlafen. Voller Intensität, voller Sinneseindrücke. Eben wie ein Parfum.
Infos und Adressen: La Réunion, Indischer Ozean
La Réunion, Indischer Ozean
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