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Historiker Philipp Felsch im Interview

Wie der Wahnsinn in die Berge kam

• 23. April 2018
3 Min. Lesezeit

Historiker und Kulturwissenschaftler Philipp Felsch im Gespräch über die alpine Geschichte, den blinden Fleck am Gipfel und warum die Zurechnungsfähigkeit mit zunehmender Höhe abnimmt. Ein Auszug der spannendsten Passagen des Interviews im vergangenen Bergwelten Magazin (Juni/Juli 2017) für Euch im Überblick.

Philipp Felsch befasst sich mit der Geschichte der Alpen
Foto: Roland Vorlaufer
Philipp Felsch befasst sich mit der Geschichte der Alpen
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Bergwelten: Warum tun wir uns das eigentlich an? Also die Bergtour oder, ganz allgemein, den Berg?

Philipp Felsch: George Mallory sagte: „Weil er da ist.“ Eine bessere Antwort ist bislang keinem eingefallen.

Sie haben ein Buch über Alpenreisen im 19. Jahrhundert geschrieben und sich immer wieder mit den Bergen befasst. Was interessiert den Historiker an den Alpen?

Mich beschäftigen die Alpen seit Jahren. Zuerst durch mein Buch, dann durch eine Ausstellung, die ich 2014 für den Österreichischen Alpenverein kuratiert habe. Die Alpen funktionieren als kulturwissenschaftliches Thema extrem gut.

Warum?

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Sie sind eines der besten Beispiele dafür, dass unsere Wahrnehmung von Natur sich kulturell und historisch extrem geändert hat. Als prägnantes Beispiel ist mir immer Johann Joachim Winckelmann im Gedächtnis, ein Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts, der die Antike-Begeisterung in Deutschland ausgelöst hat und immer wieder nach Italien gefahren ist. Als er 1760 in der Kutsche über den Gotthard fuhr, verhängte er die Fenster der Kutsche – wegen des unerträglichen Schreckens. Überhaupt finde ich die Literatur des frühen Alpinismus ganz toll. Das liest sich fast so, als würden die den Mond betreten. Diese eingefahrenen Konventionen im Blick auf die Berge gibt es noch nicht.

In Johann Gottfried Ebels „Anleitung auf die nützlichste und genussvollste Art in der Schweitz zu reisen“ aus dem Jahr 1793 wird Reisenden, die sich auf Sesseln über den Gemmipass tragen ließen, empfohlen, sich die Augen zu verbinden.

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Ja. Man glaubt es kaum. Heute liegt es uns fern, dass man den Anblick der Berge als ästhetische Zumutung empfunden hat. Und schon eine Generation später sind wir bei den ersten Romantikern wie George Byron – die schreiben dann in Gedichten über den Mont Blanc, wie sie dieser Berg in ekstatische Zustände versetzte und „dem Wahnsinn nah“ brachte. Das glaubt man genauso wenig.

Wann kam eigentlich der Wahnsinn in die Alpen?

Bei den Romantikern war er schon da. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde dann ein Zustand erreicht, der im Grunde bis heute gilt. Das ganze Spektrum der Motive, die alpine Landschaftswahrnehmung, die dann auch schnell zum Klischee wurde, zum Postkartenmotiv, war damals schon ausgebildet. Und all jene, die von den Konventionen abwichen, galten als Wahnsinnige. John Murrays „Handbook for Travellers in Switzerland“ bescheinigte den Mont-Blanc-Besteigern noch 1852, sie hätten ein „krankes Gemüt“.

Die Wahrnehmungsstörung haben Sie in Ihrem Buch „Laborlandschaften“ als „blinden Fleck der Bergtour“ bezeichnet: der entscheidende Moment auf dem Gipfel, an den sich ein Bergsteiger nach der Rückkehr nicht erinnern kann. Da ist von „müden Augen“, „fabelhafter Ermattung“ die Rede – und von „überwältigenden Gebirgslandschaften“ im wahrsten Sinne des Wortes.

Genau diese Erfahrung machen die Pioniere des Hochalpinismus, die kraxeln da hoch, haben mit Höhenkrankheit zu kämpfen, sind extrem müde, haben auch noch Angst – und dann empfinden sie am Gipfel eine totale Enttäuschung, eine Antiklimax. Der Schweizer Naturforscher Horace-Bénédict de Saussure hat jahrelang darauf hingelebt, den Mont Blanc zu besteigen. 1787 schafft er es endlich. Und auf dem Gipfel stampft er vor Wut und Enttäuschung auf den Schnee, weil ihm speiübel ist. Er schreibt später: „Ich war wie ein Gourmet, der zu einem herrlichen Festmahl eingeladen ist und den ein heftiger Ekel daran hinderte, es zu genießen.“ Am Gipfel verliert die Aktion ihren Sinn. Und weil der Körper das Genießen der Landschaft verhindert, richtet sich der Blick der Bergsteiger im 19. Jahrhundert nicht nach außen, sondern nach innen, auf den Körper, auf die Leistung. Die „Verinnerlichung der alpinistischen Aufmerksamkeit“ habe ich das in meinem Buch genannt.

Was heißt das für die Geschichten, die Bergsteiger erzählen? Macht der „blinde Fleck“ aus diesen Geschichten fiktionale Literatur, weil der Bergsteiger selbst nicht mehr weiß, was passiert ist?

Es gibt schon früh den Vorwurf, dass diese Geschichten nicht ernst zu nehmen sind, weil Bergsteiger gar nicht in der Lage sind, sich und ihre Umgebung genau zu beobachten. Die Franzosen, die 1844 eine große wissenschaftliche Mont-Blanc-Expedition durchführten, behaupteten, keine der früheren Besteigungen hätte irgendwelche belastbaren Ergebnisse erbracht. Aber auf der anderen Seite geht es in der romantischen Literatur auch immer um Unsagbares, um das Erhabene. Insofern gibt es da von vornherein ein literarisches Motiv. Ein Bereich, in dem alles Mögliche passieren kann.

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Das ganze Thema hat in den vergangenen Jahren aber eine ziemliche Ernsthaftigkeit bekommen; zum Beispiel als der Österreicher Christian Stangl behauptete, er sei auf dem K2 gewesen – und mit dieser Lüge spektakulär aufflog. Stangl behauptete, er habe sich den Gipfel „nur eingebildet“. Wo verläuft die Grenze zwischen Wahn und Lüge?

Die Wahnvorstellung in der Geschichte des Alpinismus ist gesetzt. Daher können diese Leute mit etwas Restglaubwürdigkeit behaupten, dass sie sich falsch erinnert haben. Jenseits einer bestimmten Höhe gibt es keine Zurechnungsfähigkeit mehr.

Dann lassen Sie uns doch behaupten, wir hätten dieses Interview auf dem Gipfel des K2 geführt. Kommen wir damit durch?

Überhaupt nicht. Das Tonband würde verraten, dass wir uns unmöglich auf dem K2 befunden haben können. Ich will meine Antworten nicht über den grünen Klee loben, aber ganz so dumm war unsere Unterhaltung nicht.

Interview: Andreas Lesti

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