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Auf die Spitze getrieben

Text: Klaus Haselböck | Illustration: Romina Birzer

Acht Touren, die einst den Alpinismus revolutioniert haben – und welcher Stellenwert ihnen heute zukommt.

Keine alpine Leistung steht für sich allein: Jede Tat, und sei sie noch so kühn oder innovativ, baut auf dem Mut, dem Wissen und der Vision der Vorsteigenden auf. Die Neugierde der Jäger, der Viehhirten und der Naturwissenschaftler war die Grundlage, damit später große Gipfel wie der Mont Blanc, das Matterhorn oder die Drei Zinnen bestiegen werden konnten. Und es brauchte all die Erfahrungen, die die Pioniere in den Alpen oder den Anden gesammelt hatten, damit Sieben- und Achttausender möglich wurden. So war ein Hermann Buhl Wegbereiter für einen Reinhold Messner, und dieser hat wiederum die nächste Generation für Höchstleistungen inspiriert.

Viele außergewöhnliche Menschen haben also an den Stellschrauben des Alpinismus gedreht. Repräsentativ für diese Evolution werden hier acht Touren auf hohe Berge und durch respekteinflößende Wände vorgestellt. Allen ist gemeinsam, dass sie das Konstrukt von „unmöglich“ um das entscheidende Quäntchen hinausgeschoben haben.

1. Eiger-Nordwand: Das letzte Problem der Alpen

Akteure: Anderl Heckmair, Ludwig Vörg (beide Deutschland), Heinrich Harrer, Fritz Kasparek (beide Österreich)
Schauplatz: Eiger-Nordwand/Berner Oberland, Schweiz
Gipfeltag: 24. Juli 1938
Herausforderungen: Steinschlag, Lawinen, Gewitter, Klettern bis in den 5. Grad, Fels oft nass oder vereist
Bedeutung: Die 1.800 Meter hohe und fast vier Kilometer breite Eiger-Nordwand galt als „letztes großes Problem“ der Alpen und hatte wegen der spektakulären Unfälle in den 1930ern den Ruf einer „Mordwand“. Das deutsch-österreichische Quartett, das erst zwischen dem zweiten und dritten Eisfeld zu einer Seilschaft zusammenfand, glaubte an seine Chance und durchstieg trotz Lawinen im Sommer mit bescheidener Ausrüstung (Harrer sogar ohne Steigeisen) in drei Tagen die Wand.
Status quo: Heute verlaufen gut zwei Dutzend Routen durch die Eiger-Nordwand mit der „Odyssee“ (8a+) als schwierigster Option. Die Heckmair-Route von 1938 wird heute vor allem im Winter geklettert, weil im Sommer die Eisfelder wegen des Klimawandels abschmelzen.

2. Bonattipfeiler: Sechs Tage auf einem anderen Planeten


Akteur:
Walter Bonatti, Italien
Schauplatz: Südwestpfeiler der Petit Dru, Mont-Blanc-Gebiet, Frankreich
Gipfeltag: 23. August 1955
Herausforderungen: Steinschlag, Gewitter, kraftraubendes Soloklettern an Haken und Trittleitern.
Bedeutung: Der sechstägige Alleingang durch den markanten, 700 Meter hohen Südwestpfeiler war das Meisterstück des erst 25-jährigen Walter Bonatti. Enttäuscht durch eine Intrige auf der erfolgreichen italienischen K2-Expedition im Vorjahr, spezialisierte sich der Italiener auf Alleingänge in großen Alpen-Wänden. Am nach ihm benannten Bonattipfeiler führte er das gerade noch Machbare vor und schrieb dazu: „Ich lebte wie auf einem anderen Planeten, drang in eine unbekannte Dimension ein.“
Status quo: Nach einem großen Felssturz im Jahr 1997 und weiteren Abbrüchen gibt es den Bonattipfeiler in seiner ursprünglichen Form nicht mehr.

3. Gasherbrum I: Die Erfindung des Alpinstils

Akteure: Reinhold Messner (Italien), Peter Habeler (Österreich)
Schauplatz: Gasherbrum I, Pakistan
Gipfeltag: 10. August 1975
Herausforderungen: Lawinen, Steinschlag, Kälte, große Höhe, Logistik in einer bis dahin unbekannten Dimension
Bedeutung: Reinhold Messner hat vielfach Alpingeschichte geschrieben: Er bestieg als erster Mensch alle 14 Achttausender, erreichte den Everest 1978 als Erster ohne zusätzlichen Sauerstoff, später (1980) sogar noch solo und führte 1978 die erste Doppelüberschreitung von Achttausendern (Gasherbrum I & II) durch. Bei der Expedition von 1975 ergriffen zwei Bergsteiger zum ersten Mal selbst die Initiative, statt auf die Einladung einer nationalen Großexpedition zu warten, und sie gingen einen Achttausender im „Alpinstil“ an: ohne zuvor gelegte Fixseile, ohne externe Hilfe und ohne die Route vorher zu erkunden, stiegen sie in einem Zug zum Gipfel. Der Gasherbrum I, auch „Hidden Peak“ genannt, war der entscheidende Wendepunkt zu einem sportlicheren Bergsteigen im Himalaya.
Status quo: Der abgelegene Gasherbrum I wurde von den Polen Adam Bielecki und Janusz Gołąb 2012 auch im Winter bestiegen und ist im Sommer regelmäßig das Ziel von Expeditionen. Der von Messner und Habeler 1975 vorgeführte Alpinstil wurde zum Gold-Standard für exzellentes Bergsteigen.

4. Ice Warriors: Im Winter auf einen Achttausender

Akteure: Leszek Cichy und Krzysztof Wielicki
Schauplatz: Mount Everest, Nepal
Gipfeltag: 17. Februar 1980
Herausforderungen: extreme Kälte, sehr große Höhe, Lawinen, schwierige Logistik
Bedeutung: Ausgerechnet der Mount Everest war der erste der 14 höchsten Berge, die im Winter bestiegen wurden. Leszek Cichy und Krzysztof Wielicki standen am 17. Februar 1980 ganz oben und ließen ein Thermometer als Beweis ihrer Pioniertat zurück, nachdem sie zuvor eine Nacht bei minus 42 Grad überlebt hatten. Mit angefrorenen Füßen krochen die beiden durch Eisstürme zurück zum Basislager. Ihre Leistung steht auch stellvertretend für die bedindungslose Konsequenz anderer „Ice Warriors“ unter den polnischen Alpinisten wie eines Jerzy Kukuczka (nach Messner der zweite Besteiger aller 14 Achttausender und Erstbesteiger von drei Achttausender im Winter) oder eines Voytek Kurtyka (erste Überschreitung aller drei Broad-Peak-Gipfel, Erstdurchsteigung der Westwand des Gasherbrum IV mit Robert Schauer).
Status quo: Mittlerweile wurden alle 14 Achttausender (inklusive des lange als „unmöglich“ geltenden K2) im Winter bestiegen. Neben den polnischen Alpinisten setzte vor allem der Italiener Simone Moro Meilensteine. Ihm gelangen seit 2008 vier Winter-Erstbesteigungen.

5. Die neue Dimension im Valley: „It goes, boys!“

Akteure: Lynn Hill, Brooke Sandahl (beide USA)
Schauplatz: El Capitan, Route „The Nose“, Yosemite Valley/Kalifornien
Gipfeltag: 16. September 1993
Herausforderungen: extrem schweres Klettern
Bedeutung: Eine Dreier-Seilschaft konnte die „Nose“, die 1.000 Meter hohe Südkante des El Capitan, 1958 an 47 Klettertagen, verteilt auf 17 Monate, erstmals technisch klettern. Eine „freie“ Begehung, also ohne Hilfsmittel wie Leitern und Seile zur Fortbewegung am Fels, schien unendlich weit weg: Bis die 1,57 Meter große Lynn Hill 1993 innerhalb von vier Tagen Schlüsselstellen wie „The Great Roof“ und die „Changing Corners“ (5.13c/8a+) entschärfte. Ihr Spruch „It goes, boys“ war ein klares Statement an die männerdominierte Kletterszene der Zeit. Ein Jahr später kehrte Hill, die zuvor schon als Wettkampfkletterin höchst erfolgreich gewesen war und den Schwierigkeitsgrat 8b+ gemeistert hatte, nochmals zur „Nose“ zurück und durchstieg die gesamte Route frei in 23 Stunden.
Status quo: Erst 2005 gelang Tommy Caldwell die erste Wiederholung der prestigeträchtigen Tour, zwei Tage später rauschte er in weniger als zwölf Stunden durch die „Nose“.

6. Latok II: Big-Wall-Klettern in dünner Luft

Akteure: Alexander und Thomas Huber, Toni Gutsch (alle Deutschland), Conrad Anker (USA)
Schauplatz: Latok II, Westwand, Karakorum, Pakistan
Gipfeltag: 19. Juli 1997
Herausforderungen: große Höhe, schwierige Logistik, sehr schweres Klettern
Bedeutung: Alexander Huber hatte in den 1990er-Jahren mit Routen wie „Weiße Rose“ (XI, 9a) oder „Open Air“ (XI+/9a+) regelmäßig Maßstäbe und mit der Rotpunkt-Begehung der „Salathé Wall“ (5.13b) im Yosemite Valley einen Meilenstein gesetzt. Sein Können übertrug er 1997 ins Karakorum, wo mit dem Latok II erstmals eine Big Wall in über 6.000 Meter Höhe geklettert wurde: In 26 Seillängen (5.10/A3) kämpfte sich die Vierer-Seilschaft durch deren Westwand und eröffnete damit eine neue Dimension im Karakorum.
Status quo: Die vier Latok-Türme sind nur selten das Ziel von Expeditionen. Die Huberbuam konnten die dort gewonnenen Erfahrungen in den folgenden Jahren mit noch kühneren Projekten an den Wänden der Trango-Türme, des Ogre oder des Choktoi Ri umsetzen.

7. Cerro Torre: Von der Halle auf den schwierigsten Berg

Akteure: David Lama, Peter Ortner (beide Österreich)
Schauplatz: Cerro Torre, Kompressor-Route, Anden, Argentinien/Chile
Gipfeltag: 21. Jänner 2012
Herausforderungen: extremes Wetter, extrem schweres Klettern bei dürftiger Sicherung
Bedeutung: Alle sagen, es geht nicht. Mehr noch: Es ist unmöglich. Wenn der eine, der das Gegenteil beweisen will, dann auch noch ein junger Hallenkletterer ist und es um den Cerro Torre geht, einen der schwierigsten Berge der Welt, kann man das auch als Provokation verstehen. Zumal die geplante „Kompressor-Route“ eine Legende für sich ist. Der Tiroler David Lama flog ins sturmumtoste Patagonien, scheiterte kläglich, bezog via Social Media ordentlich Prügel, kehrte trotzdem in die Anden zurück und scheiterte, wenn auch diesmal besser. Erst beim dritten Versuch knackte er 2012 die knifflige Bolt-Traverse und fand einen Weg durch die glatte Headwall (IX+/X–) des 3.128 Meter hohen Cerro Torre. Er hatte eine Metamorphose vom Hallen-Champion zum Top-Alpinisten hingelegt.
Status quo: Das US-Trio Mikey Schaefer, Josh Wharton und Andrew Rothner wiederholte 2016 David Lamas Route. Im gleichen Jahr rasten Colin Haley und Alex Honnold in unter 21 Stunden über die „Torre Traverse“ (vom Cerro Standhardt bis zum Cerro Torre), und die Halle ist längst die Basis für jede Evolution in den großen Wänden.

8. Die Mondlandung: Seilfrei auf den El Cap

Akteur: Alex Honnold (USA)
Schauplatz: El Capitan, Route „Freerider“, Yosemite Valley/Kalifornien
Gipfeltag: 3. Juni 2017
Herausforderungen: extrem schweres Klettern, seilfrei in großer Höhe
Bedeutung: Seilfreie Begehungen haben immer schon einen besonderen Reiz auf Alpinistinnen und Alpinisten ausgeübt. Teils waren es extrem anspruchsvolle Sportkletterrouten wie der „Kommunist“ (10+) des nervenstarken Alexander Huber, während der Ötztaler Hansjörg Auer mit dem 800 Meter langen „Weg durch den Fisch“ (9–) einen Free-Solo-Meilenstein setzte. Am 3. Juni 2017 hat Alex Honnold völlig neue Maßstäbe gesetzt, indem er allein und ohne Seilsicherung den El Capitan auf der fast 1.000 Meter lange Route „Freerider“ (9) in 3:56 Stunden durchstieg. Kletterkollege Tommy Caldwell bezeichnete Honnolds Leistung als „die Mondlandung des Free-Solo-Kletterns“.
Status quo: Dem Italiener Alfredo Webber gelang mit der seilfreien Begehung von „Panem et Circenses“ 2021 eine seilfreie Begehung im Schwierigkeitsgrad 11–. Die 15 Meter lange Route war dabei durch zwei Crashpads abgesichert. An eine Free-Solo-Wiederholung der Route „Freerider“ hat sich bislang niemand gewagt. Auch Honnold selbst, mittlerweile Familienvater, geht es aktuell etwas ruhiger an.

Themenschwerpunkt „Leistung“:

Was muss auf der Bucket List des Lebens und auf dem Berg abgehakt werden? Wie ist das, wenn man erst „später“ mit einem ganz neuen Sport beginnt? Welche Höhepunkte gab es im Alpinismus? Welche Leistungen werden am Berg eigentlich erbracht und wie ist das, wenn man schon alles erreicht hat?

Diese Fragen und viele mehr haben wir uns im Dossier zum Thema „Leistung“ gestellt und versucht zu beantworten.

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