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Porträt

Paraclimbing-Weltmeister Angelino Zeller: „Das ist alles kein Stress“

Text: Katrin Rath, Illustration: Michael Paukner

Ein Berufswechsel, ein neues Hobby oder eine neue Route auf den Hausberg: die meisten Wegänderungen in unserem Leben suchen wir uns selbst aus. Was aber, wenn man durch einen Unfall gezwungen wird, neue Wege einzuschlagen?

Angelino Zeller ist 26 Jahre alt und braucht einen Rollstuhl. Das ist allerdings erst seit fünf Jahren so. Damals, 2017, ist sein Paragleitschirm 20 Meter über dem Boden eingeklappt – der Absturz war unvermeidbar. „Ich habe dann gemerkt, dass ich nicht aufstehen kann, und gleich gewusst: Das wird wohl etwas Gröberes sein“, beschreibt der Steirer die ersten Gedanken nach dem Unfall.

Angelino Zeller
Jan Virt
Das Klettern spielt sowohl vor als auch nach dem Unfall eine große Rolle in Angelinos Leben

Als ihm die Ärzte sagen, dass er nicht mehr laufen können wird, schießen ihm die in so einer Situation wohl üblichen Fragen durch den Kopf: „Wieso passiert das genau mir? Wie werde ich mich duschen oder anziehen können? Und wie soll ich Auto fahren?“ Bald schon ändert sich seine Perspektive: „Aber ich hab dann eigentlich sofort das Positive gesehen und mir gedacht: Passt, das ist jetzt halt so.“ Angelino ist sich sicher, dass ihm seine optimistische Einstellung – die er bereits vor dem Unfall hatte – dabei geholfen hat, mit diesen doch sehr einschneidenden Änderungen umzugehen. Er hat sofort überlegt, wie er das Beste aus der Situation machen kann. Wo andere in ein tiefes Loch fallen, hat er es geschafft, den Lebenswillen nicht zu verlieren: „Mit der Zeit merkt man, dass das alles kein Stress ist. Zumindest in meinem Fall. Meine Lähmung befindet sich auf Brusthöhe – dementsprechend habe ich im Oberkörper alle Funktionen. Ich kann eigentlich nach wie vor alles machen – fast wie vorher.“ Mit „alles“ meint die Frohnatur etwa surfen, Kajak fahren, den Alltag bewältigen – und klettern.

Neue Herausforderungen

Richtig gelesen – klettern! Während es dabei normalerweise darum geht, die Arme so gut wie möglich zu entlasten und sich möglichst mit den Beinen fortzubewegen, sind Kletterer mit einer Querschnittslähmung ganz auf ihren Oberkörper angewiesen. „Für mich war das eine irrsinnige Umstellung, und ich hätte mir davor auch nicht gedacht, dass das überhaupt möglich ist“, sagt Angelino, der bereits vor dem Unfall viel geklettert ist. Im Rahmen einer Inklusionskletterveranstaltung in Graz probiert er den Sport erstmals unter neuen Umständen aus. Offensichtlich mit Erfolg: Kletterer aus dem Paraclimbing-Nationalteam laden ihn gleich nach Innsbruck zum Training ein, bald darauf ist er Teil der Mannschaft, und zwei Jahre später räumt er seinen ersten Weltmeistertitel ab.

Angelino Zeller
Jan Virt
Angelino klettert lediglich aus den Armen – die Beine kann er zum Schwungholen und Ausbalancieren benutzen

„Wenn du offen fürs Leben bist und das machst, was dir persönlich Freude bereitet, dann öffnen sich Türen.“ So simpel dieses Lebensmotto klingt, so sehr hat es sich für Angelino bewährt. Inzwischen gilt er unter seinen Teamkollegen als Leitfigur im Sport. Es gibt mittlerweile sogar einen Film über ihn („No Straight Lines“ von seinem Ausstatter The North Face), er zieht die Grenzen des Machbaren neu und gibt anderen Menschen in ähnlichen Situationen Hoffnung. Der Steirer genießt es, „wenn man merkt, dass man von außen positives Feedback bekommt und dass man Leute dazu animiert, ihre Einstellung zu ändern, sodass sie sehen, was trotz größerer Einschränkungen möglich ist.“

Neue Ziele

Dass Angelino noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, wird schnell klar, wenn man sich mit ihm unterhält: „Mein größter Ansporn ist es nicht, Meisterschaften oder Titel zu gewinnen. Das ergibt sich durch das Training von selbst. Große Wünsche von mir sind eher, Kletterprojekte am Fels in einer gewissen Schwierigkeit zu realisieren, die vor mir noch keiner bloß mit den Händen und Armen geschafft hat.“

„Am Fels gibt es noch irrsinnig viele Sachen, die ich für mich erreichen möchte.“

Hilfreich dabei ist, dass der ehemalige Industriekletterer – zur Überraschung seiner Ärzte – Hüftbeuger und Adduktoren ansteuern und an der Wand einsetzen kann: „Den Hüftbeuger kann ich wie ein Pendel nützen. Das heißt, ich kann mich zwar nicht abstützen oder stabilisieren, aber den Schwung gezielt für weite Züge verwenden.“

Lösungen suchen und finden

Bei so viel Optimismus stellt man sich dann aber doch auch die Frage, ob es nicht auch Tage gibt, an denen die größte Frohnatur von Zweifeln oder Sorgen geplagt wird. Die Antwort ist natürlich: Ja. Die Probleme unterscheiden sich jedoch nicht von jenen, die Menschen mit funktionierenden Beinen beschäftigen. Und in Sachen Bewältigungsstrategie können sich wohl viele noch eine Scheibe von Angelino abschneiden: „Ich versuche mich so wenig wie möglich zu ärgern. Man ertappt sich natürlich, wenn man sich unnötig in etwas reinsteigert, aber da höre ich dann Musik, lese ein Buch oder sorge für einen Tapetenwechsel. So komme ich schnell wieder runter und sehe alles wieder gelassen.“

Was empfiehlt der sportliche Rollstuhlfahrer also Menschen, die ebenfalls in eine Situation geraten sind, die sie zum Umdenken zwingt oder in ein Loch ziehen will? „Ganz egal mit welchem Schicksalsschlag man kämpft oder in welcher aussichtslosen Situation man steckt – es gibt für alles einen Weg. Auch wenn es auf den ersten Blick noch so unmöglich erscheint – es gibt für alles eine Lösung. Ich war schon immer ein großer Fan davon, das zu machen, was einem wirklich Spaß macht. Dann trägt einen das Leben nämlich auch in die richtige Richtung.“ Was wirkt wie ein Ratschlag aus einem abgedroschenen Selbsthilfebuch, wird aus Angelinos Mund zu einer erfolgreichen Lebensstrategie. Er selbst ist wohl der beste Beweis dafür.

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