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Essay

Verirren ist menschlich

Text: Alexander Müller-Macheck, Illustration: Michael Paukner

Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist – ja, eh – die Gerade. Das ist vordergründig bloß eine geometrische Feststellung und könnte uns in 99 Komma 9 periodisch Prozent aller Situationen schlicht egal sein.

Wäre da nicht etwas, das solche Gedanken klammheimlich, wenn nicht sogar hinterfotzig im Laufe eines Menschenlebens tief in uns zum Ideal erhebt. Wir gehen keine Umwege und nennen das effizient. Wir lassen uns nicht vom Weg abbringen und nennen das konsequent. Wir bleiben dran und nennen das diszipliniert. Ich verrate Ihnen bei dieser Gelegenheit zwei Geheimnisse.

Erstens: Ich habe das so gut wie noch nie wirklich geschafft (und fühle mich deswegen zeitweise mehr oder weniger schlecht).

Zweitens: Niemand schafft das. Sage nicht ich. Sondern Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik in Tübingen.

Man kann gar nicht geradeaus gehen

In einer Studie sollten Probanden mit verbundenen Augen möglichst lange schnurstracks geradeaus gehen. Nach spätestens zwanzig Metern kamen alle vom Weg ab. In einer weiteren Testreihe in der Sahara und einem Wald im Rheintal geschah dasselbe, auch ohne verbundene Augen. Sämtliche Teilnehmer liefen im Kreis und kehrten – in der festen Überzeugung, die ganze Zeit geradeaus marschiert zu sein – auf hundert Meter genau an den Ausgangspunkt ihrer Wanderung zurück.

Das liegt weder an ungleich langen Beinen noch am Geschlecht oder am Schuhwerk, fanden die Forscher heraus, sondern ganz augenscheinlich in der Natur des Menschen.

Ich halte das – auch – für eine wunderbare Nachricht. Aus zumindest zwei Gründen. Zum einen ist somit erneut bewiesen, dass wir für unsere Orientierung etwas außerhalb von uns brauchen (hallo, Sterne, Berge, Sonne, hallo, andere Menschen!). Denn wer sich ausschließlich auf sich selbst bezieht, kommt nicht weiter, sondern fällt buchstäblich immer auf sich selbst zurück.

Zum anderen: Wenn es schon in unserer Natur liegt, vom Weg abzukommen, könnten wir uns ja auch auf das freuen, was uns abseits geplanter Pfade erwartet. Erfreulicherweise führt diese Haltung gleichzeitig zu einem besseren Überblick, denn – und hier zitiere ich meinen weisen Wanderfreund Manfred –: Erst wenn du dich verirrt hast, kennst du dich in der Gegend wirklich aus.

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