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Messners Philosophikum

Shackletons Fernglas

• 11. März 2022
3 Min. Lesezeit

1916, vor über einhundert Jahren, ist die Antarktis Schauplatz einer spektakulären Rettungsaktion.

Autor: Reinhold Messner für das Bergwelten-Magazin Jänner 2015 April/Mai 2016

Das Abenteuer seines Lebens beginnt 1914: Sir Ernest Henry Shackleton, der erfahrene britische Polarforscher, ist 40 Jahre alt und konkurriert immer noch mit Robert Falcon Scott, dem toten Scott, der im Jänner 1912 den Südpol erreicht hat und auf der Heimreise gestorben ist. Shackleton plant, vom Atlantischen Ozean zum McMurdo-Sund am Pazifischen Ozean zu laufen – über FilchnerRonne-Schelfeis, Südpol, Beardmore-Gletscher und Ross-Schelfeis. „Meine Polarexpedition wird alle vorangegangenen in den Schatten stellen“, sagt er.

In einer beispiellosen Werbekampagne treibt er innerhalb von zwei Jahren so viel Geld auf, dass er zwei Schiffe ausrüsten kann. Im Frühjahr 1914 sind die Vorbereitungen abgeschlossen. Die „Endurance“ unter dem Kommando von Shackleton soll am Rande des Filchner-Ronne-Schelfeises in der Weddell-See überwintern. Ein zweites Schiff, die „Aurora“, wird am McMurdo-Sund anlegen, um auf dem Ross-Schelfeis Lebensmitteldepots einzurichten. Treffpunkt beider Expeditionen: der obere Beardmore-Gletscher.

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Zu Beginn des antarktischen Sommers 1915 will Shackleton, begleitet von sechs Mann, mithilfe von Hundeschlitten den Kontinent überqueren. Ein neuartiges Schneefahrzeug, ein Vorläufer des heutigen Skidoo, soll sie dabei unterstützen. Eine Antarktis-Transversale ist zwar nach allen Erfahrungen von Nansen, Filchner und Amundsen ein Irrwitz, Shackleton wagt sie trotzdem. Er will beweisen, dass er weiter kommt als alle anderen!

Shackletons Fernglas, das man auf diesem Foto sieht, gibt es im Messner Mountain Museum zu bestaunen:

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Alles ist vorbereitet und berechnet – nicht aber der Ausbruch des 1. Weltkriegs. Shackleton stellt Schiffe und Mannschaften der Admiralität zur Verfügung. Er darf aber sein kühnes Vorhaben fortsetzen, der Krieg sei bald vorbei, heißt es. Am 8.August 1914 läuft die „Endurance“ aus dem Hafen von Plymouth aus, erreicht am 26. Oktober die Inselgruppe Südgeorgien und fährt weiter, in die Weddell-See.

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Eingesperrt im Eis

Zwischen Packeis und Eisbergen manövriert Shackleton seine „Endurance“ drei Monate lang nach Süden. Am 19. Jänner 1915 friert sie ein und treibt mit den Eismassen 2.410 Kilometer weit. Die 28-köpfige Besatzung trainiert inzwischen die Hunde und spielt Fußball auf dem Eis. Das Schiff aber gerät zwischen Eispressungen und kommt nicht wieder frei: nicht im Herbst, nicht zu Beginn des antarktischen Sommers. Ehe es in tausend Teile zerbricht, können Ausrüstung, Rettungsboote, Hunde und Proviant geborgen werden.

Shackletons Expedition ist, wieder einmal, gescheitert. Schlimmer noch, sie ist dem treibenden Eis ausgeliefert. Erst am 14. April 1916 betreten die Männer erstmals wieder festes Land, nach 16 Monaten Odyssee auf dem Eismeer. Auf Elephant Island gibt es Seehunde und Pinguine. Das Nahrungsproblem ist vorerst gelöst. Das Fett wird ausgelassen und als Brennmaterial gebraucht. Aber würde je ein Schiff vorbeikommen, sie retten? Nein, nicht mal in zehn Jahren. Hilfe muss organisiert werden. Wo? In Südgeorgien, 1.300 Kilometer von Elephant Island entfernt.

Am 24. April 1916 bricht Shackleton mit fünf Männern in einem Beiboot auf. Das Kommando über die Zurückgebliebenen überträgt er seinem Freund Frank Wild. Ihm vertrauen die Schiffbrüchigen. „Shack“ verspricht, vor Winterbeginn zurück zu sein und sie nach Südamerika in Sicherheit zu bringen.

Alle sind am Leben!

Wild organisiert den Lageralltag. „Der Boss wird zurückkommen“, sagt Wild. Immer wieder. Shackleton ist mit seinem kleinen Boot an den Klippen der Küste von Südgeorgien gekentert. Um die rettende Walfangstation Stromness zu erreichen, muss er Gletscher und hohe Bergrücken überqueren – ohne adäquate Ausrüstung, ohne Karte, ohne Proviant. 105 Tage nach seinem Aufbruch kehrt Shack schließlich zurück, um seine Mannschaft aus der Eisgefangenschaft zu befreien. Vom chilenischen Eisbrecher „Yelcho“ aus blickt er am 30. August 1916 mit dem oben abgebildeten Fernglas zur Küste. Zuerst steht dort nur ein Mann. Ist es Frank Wild? Ein Zweiter taucht auf, ein Dritter kriecht aus einem Unterstand. Ein Vierter. Shack zählt: fünf, sechs, sieben, … zweiundzwanzig. Er atmet tief durch. Ja, da vorne steht Wild. Shack gestikuliert, ruft: „Frank!“ Wild, der am Wasser steht, versteht: ob sie alle gesund seien. „Yes, alle wohlauf“, ruft er zurück. Shack bricht in Tränen aus: Ein Wunder, alle sind am Leben! Auch, weil Frank Wild die Hoffnung auf Rettung nie aufgegeben hat.

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Reinhold Messner, geb. 1944 in Brixen, stand als erster Mensch auf allen 14 Achttausendern der Erde. Er ist erfolgreicher Buchautor und baute das Messner Mountain Museum an mittlerweile sechs Standorten in Südtirol auf.

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