16.800 Touren,  1.600 Hütten  und täglich Neues aus den Bergen
Foto: Stefan Kürzi
Unterwegs mit Kletterin Nina Caprez

Kein Plan. Kein Konzept. Kein Problem.

• 21. April 2020
7 Min. Lesezeit

Unterwegs mit einer der weltbesten Kletterinnen, mit der Schweizerin Nina Caprez, in ihrer Heimat Prättigau, einer für Bergsportler besonders reizvollen Region von Graubünden. Diese Story ist im Bergwelten Magazin (April/Mai 2018) erschienen.

Bericht: Usé Meyer 
Fotos: Stefan Kürzi

Ist ihre stets sympathische Art nur Fassade? Wirkt ihr unerschütterlich positives Denken nicht auch aufgesetzt? Wie schafft man es, so unbeschwert durchs Leben zu gehen? All das fragt sich wohl manch einer, der mit Nina Caprez zu tun hat. «Wenn du es zu ernst nimmst, klappt’s eh nicht.» Und ausserdem: Ihr Job sei es, «zu ihren Bergen» zu klettern. «Das ist doch einfach das Geilste, was es gibt», sagt die 32­Jährige und lässt den Blick vom Holzsteg über das leicht gekräuselte Wasser des türkisblauen Partnunsees bis zu den Gipfeln der Schijenflue und der Sulfluh schweifen. «Das ist ein richtiger Kraftort für mich, hier finde ich Ruhe.» 

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In Küblis im Prättigau aufgewachsen, wurde die Bergwelt des Rätikon schnell zu ihrem zweiten Wohnzimmer. Hier unternahm sie mit der Familie viele Wanderungen, erste Kletterversuche mit den Kollegen und an ebendiesen Felswänden feierte sie später mehrere herausragende Klettererfolge. 

«Das zarte Mädchen war ich nie», erzählt Nina. Immer schon hat sie sich mit den Buben gemessen: beim Rennen, Springen oder Prügeln auf dem Pausenplatz. Draussen in der Natur zu sein war ihr Ding: Baumhütten bauen, Bäche stauen. Noch vor ihrem dritten Geburtstag verunglückte ihr Vater in den Bergen tödlich, die alleinerziehende Mutter von drei Kindern stürzte in eine Depression. «Und trotzdem: Ich hatte eine sooo coole Kindheit», resümiert Nina heute. Mit 13 Jahren schloss sie sich der regionalen Jugendorganisation des SAC an, der JO Prättigau. 

Fortan ging es auf Hochtouren, Skitouren und in Kletterlager. Das habe sie auf einen guten Weg gebracht. Nina ist überzeugt, dass es für die persönliche Entwicklung in der Zeit zwischen 13 und 16 Jahren stark auf den Freundeskreis ankommt. 
 

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Das erste Mal

In der Schule war sie eine Aussenseiterin, man hat sie ausgelacht, weil sie so viel Sport machte. «Die anderen sind halt lie­ber abgehangen, haben geraucht und sind mit ihren Töfflis rumgefahren.» Ihr doch egal. Nina spürte aber, dass sie auf dem richtigen Weg war. 

Und bereits beim ersten Mal Klettern – im Nachstieg, also von oben gesichert, ohne Sturzgefahr – war ihr eines klar: «Als ich wieder unten war, habe ich gesagt: Das ist nichts für mich! Ich will vorsteigen.» Sie weiss noch genau, wie sie bereits bei ihrem ersten Vorstieg den Kitzel – diese Angst eines möglichen Sturzes ins Seil – genossen hat. 

Ihr Kletterstil: klar in der Bewegung, extrem fokussiert und in einer scheinbar mühelosen Balance. 

Nun steht sie am Schijenzahn, gut 400 Höhenmeter oberhalb des Partnunsees. Auf den Gipfel der imposanten, 90 Meter hohen Felsnadel führt eine Dreiseillängentour im Schwierigkeitsgrad 5a. Kinkerlitzchen für eine Nina Caprez, aber «ein lässiger Gipfel». 

Wenn Nina lacht, kommt etwas Verschmitztes, Mädchenhaftes zum Vorschein; wenn sie klettert, die Powerfrau mit den breiten Schultern, den muskulösen Armen, den ausgeprägten Adern, den geschundenen Händen. Ihr Kletterstil: elegant, langsam, klar in der Bewegung, extrem fokussiert und in einer scheinbar mühelosen Balance. 

Die Spitzen der schmerzhaft engen Kletterschuhe auf einem bleistiftbreiten Felsbändchen und sich an drei Fingern in einem messerscharfen, winzigen Spalt hochzuziehen – im Überhang: So sieht Klettern im achten Grad nach französischer Bewertung aus. Auf diesem hohen Niveau hat sich Nina längst etabliert. Drei herausragende Erfolge konnte sie hier, in «ihrem» Rätikon, feiern: 2011 in einer der anspruchsvollsten Alpinrouten der Welt. Als erste Frau kletterte Nina die 200 Meter lange Route «Silbergeier» (8b+) frei. 2015 gelang ihr die erst zweite Wiederholung der Route «Die unendliche Geschichte» (8b+/400 m), die 1991 von Beat Kammerlander erstbegangen wurde. Und schliesslich schaffte sie im Spätsommer 2018 die erst dritte Begehung von «Headless Children» (8b/250 m). Die Route befindet sich gleich hinter dem Schijenzahn, im steilsten Wandteil der Schijenflue. 

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Was reizt sie, in solch schwierige und selten erfolgreich begangene Routen einzusteigen? «Es ist pur, der Routenverlauf ist aufgrund der wenigen Begehungen meist nicht klar, du musst selber noch rumtüfteln, es kann immer etwas Fels ausbrechen. Dieses Ungewisse finde ich cool.»  

Eine ihrer Lieblingstouren am Schijen­zahn.
Foto: Stefan Kürzi
Eine ihrer Lieblingstouren am Schijen­zahn.

Genauso wie den Nervenkitzel. Etwa in der Route «Silbergeier», wo die Hakenabstände gross sind und somit ein Sturz ins Seil weit gehen kann. «Ich liebe dieses Gefühl weit über dem letzten Haken. Das ist keine Angst – eher eine Erregung.» Dann sei sie viel aufmerksamer, voll fokussiert und schliesslich «uuh zufrieden», wenn sie solch eine heikle Passage gemeistert habe. Sturzangst habe sie eh noch nie gehabt –und dies trotz ihrem allerersten Klettererlebnis in der Kindheit: «Kaum mit meinem Bruder auf den ersten Baum geklettert, gleich runtergefallen und den Arm gebrochen.» 

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Heute ist die 32-jährige Bündnerin ein Star in der Kletterszene. Das YouTube­Video über ihren Erfolg in der Route «Silbergeier» zählt über 800.000 Aufrufe. Wer nun glaubt, dass die weltweit beachteten Erfolge auf einem ausgeklügelten und harten Trainingsplan basieren, liegt falsch. Nein, sie geht einfach viel klettern – am Fels und in der Halle. 

Einzelne Muskeln auf Maximalkraft zu trainieren bringe wenig, sagt Nina. Klettern sei ja ein Zusammenspiel aller Muskeln. Ausserdem gehe dabei viel über das Feeling: Man müsse wissen, wie man sich bewegt. «Gerade am Fels brauchst du ein gutes Körpergefühl.» Das erarbeite man sich über die Jahre durch das viele Klettern draussen. Und nicht zu vergessen: «Es ist vor allem eine Kopfsache – je mehr Selbstvertrauen und je weniger Angst, desto freier kletterst du, und umso stärker bist du.» 

Am Gipfel des Schijen­zahn
Foto: Stefan Kürzi
Am Gipfel des Schijen­zahn

Hauptsache, es macht Spass

Voll ehrgeizig sei sie nämlich schon auch, klar, erzählt sie beim Bier nach der Tour auf den Schijenzahn. Das zeigte sich bereits in jungen Jahren: Jahrgangsbeste beim Abschluss der Diplommittelschule, zweifache Schweizer Meisterin im Hallenklettern. Doch eigentlich waren für sie die Stunden­ und Trainingspläne der blanke Horror: jeder Tag auf die Minute verplant, Wiederholungen des immer Gleichen – langweilig. 

Wie bei den Kletterrouten liebt sie auch im Leben das Ungewisse. Nur wenn man sich Ideen nicht zu fest in den Kopf setzt, sei man wirklich offen, ist sie überzeugt. «Ich muss nicht wissen, wo ich mit fünfzig sein werde. Ich weiss ja nicht einmal, wo ich in drei Monaten bin.» 

Hauptsache, es macht Spass. «Endless laughs in the route», liest man immer wieder in ihrem auf Französisch und Englisch verfassten Kletterblog. Humor brauche es, sagt sie. «Vor allem bei mir, sonst kommst du nicht weiter.» 

Daneben braucht Nina Caprez nicht viel. Sie hat erkannt, dass sie umso glücklicher ist, je simpler das Leben ist. «Und je weniger Hab und Gut ich besitze, desto leichter fühle ich mich.» Dadurch wiederum spüre sie besser, was ihr wirklich wichtig ist. Solche Sachen sagt sie einfach so nebenbei und wirkt dabei weder naiv noch abgehoben oder lehrmeisterlich. Aufgesetzt oder Fassade ist das nicht. Man nimmt es ihr ab – und ist fast schon etwas neidisch auf diese Nonchalance. 

Derzeit stimme ihr Leben, so wie es ist: viel auf Reisen; die Wohnung im französischen Grenoble sowie das Elternhaus in Küblis als Basislager; und Verantwortung nur für sich selbst. 

Will ich noch Kinder? Was möchte ich sportlich noch reissen? Reicht das Geld auch im Alter? «Das muss ich alles nicht wissen», sagt Nina bestimmt und gönnt sich einen Schluck Bier. «Ich bin überzeugt: Wenn man mit dieser Intelligenz lebt, zu spüren, was für einen stimmt und was nicht, dann kann es nicht falsch kommen.» Und ausserdem hat sie noch so vie­le andere Interessen im Leben: «Ich habe keine Angst vor dem Tag, an dem mir das Klettern plötzlich nichts mehr sagt. » 

Das unbeschwerte Lächeln einer jungen Frau, die kräftigen Arme einer Ausnahmeathletin: «Spüren, was für einen stimmt und was nicht. Dann kann es nicht falsch kommen.»
Foto: Stefan Kürzi
Das unbeschwerte Lächeln einer jungen Frau, die kräftigen Arme einer Ausnahmeathletin: «Spüren, was für einen stimmt und was nicht. Dann kann es nicht falsch kommen.»

Draussen im Prättigau - Mit Empfehlung von Nina Caprez: Klettern, Wandern, Einkehren rund um Partnun  

Ankommen

  • Mit dem Auto: von Zürich auf der A3 bis Ausfahrt Landquart/Davos; in Küblis nach St. Antönien abbiegen, den Wegweisern
in Richtung Partnun folgen. Letzte Parkmöglichkeit bei Parkplatz Nr. 6 (gebührenpflichtig). Von dort in 30 Minuten zu Fuss bis Partnun; der Weiler liegt auf 1.762 Metern und ist der ideale Ausgangspunkt für Kletter- und Wandertouren; für Übernachtungsgäste gibt es Parkplätze in Partnun. 
     
  • Mit dem ÖV: mit der SBB bis Landquart und von dort mit der RhB bis Küblis; von Küblis per Postauto bis St. Antönien-Rüti und von dort zu Fuss in 1 Stunde 15 Minuten bis Partnun. Von Juli bis Mitte August fährt täglich ein Bus alpin nach Partnun, bis Mitte Oktober dann nur noch an den Wochenenden. 

Essen und Schlafen

BERGHAUS SULZFLUH 

Man hat die Wahl zwischen Nostalgiezimmern mit Kerzenlicht oder renovierten Zimmern mit Bad und WC. Auch ein Touristenlager gibt es. Das Restaurant wird mit Petroleumlicht erhellt, und draussen wartet auf die Badegäste ein Hot Pot mit Aussicht. 

Sässstrasse 1, 7246 St. Antönien, Tel.: +41 81 332 12 13
 

SAC-HÜTTE CARSCHINA 

Knapp 500 Höhenmeter oberhalb von Partnun, am Südfuss der Sulz uh, liegt die Carschina-Hütte des SAC (Bild). Es gibt Übernachtungsmöglichkeiten in Massenlagern mit Duvets. 

Klettern

Lange war das Karstgebiet vor allem Extremkletterern vorbehalten. Mittlerweile bietet die Region auch einige Routen für Genusskletterer und Familien. 
 

KLETTERGARTEN PARTNUNSEE 

Unter den rund 20 Einseillängenrouten mit 5 bis 15 Meter Höhe finden sich viele, die sich auch für Einsteiger und Familien eignen. Die Schwierigkeitsgrade gehen dabei von 3 bis 7a+. 

 

KLETTERGARTEN GRUOBEN 

An der Grenze zu Österreich wurden 2009 die rund 40 Routen des Klettergartens Gruoben eingerichtet. Die Schwierigkeitsgrade der Ein- bis Dreiseillängenrouten liegen zwischen 3 und 6b+. Von Partnun in 2 Stunden zu erreichen. 
 

SCHIJENZAHN

Diese imposante, 90 Meter hohe Felsnadel steht am Fusse der Schijenflue-Westwand. Mehrere Dreiseillängenrouten führen hoch zum Gipfelkreuz. Die einfachste ist die Route Südostwand (5a). Von Partnun in 1,5 Stunden zu erreichen (kein Wanderweg!). 

Wandern

SCHIJENFLUE-UMRUNDUNG

Diese grenzüberschreitende Tour ins nahe Österreich bietet einen geologischen Querschnitt durchs Rätikon mit seinen gegensätzlichen Bergen aus hellem Kalkstein und dunklem Silvrettagestein. Wird von vielen Einheimischen als «Lieblingstour» bezeichnet. 

Ausgangspunkt: Partnunstafel im Antöniertal
Strecke: 12 km
Dauer: 4,5 h
Höhendifferenz: 600 m 
 

PRÄTTIGAUER HÖHENWEG 

Der Klassiker ist der Prättigauer Höhenweg. Die viertägige Weitwanderung geht von Klosters der Rätikon-Kette entlang nach Landquart. Die Tour eignet sich auch für Familien und kann pauschal gebucht werden.

Ausgangspunkt: Klosters
Strecke: 67 km
Dauer: 25 h
Höhendifferenz: 2.080 m im Aufstieg, 3.450 m im Abstieg 

Informieren

Prättigau Tourismus
: Sananggastrasse 6, 7214 Grüsch, Tel.: +41 81 325 11 11

Kletterführer

«Graubünden – Churer Rheintal, Rätikon, Davos, Surselva, Vals, Engadin, Bergell», von Thomas Wälti, 560 Seiten, SAC-Verlag 2013 

 

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