
Podcastfolge #94: Blind in die Berge
Foto: Kletterhalle Wien / Edgar Eisner
Wie findet man Halt, wenn man nichts sieht? Die österreichische Parakletterin Linda Le Bon ist fast blind – und erklimmt dennoch mit beeindruckender Präzision steile Wände und hohe Berggipfel. In der neuen Folge des Bergwelten-Podcasts begleiten wir sie bei einem Training und stellen die Frage: Wie erlebt man die Berge mit einem, fürs Bergsteigen so wichtigen, Sinn weniger? Und: Wie orientiert man sich ohne Sehsinn an Kletterwänden und am Fels?
Mit Stimme statt Sicht
Linda Le Bon ist Anfang sechzig, leidenschaftliche Bergsportlerin und seit einigen Jahren fester Bestandteil der internationalen Parakletter-Szene. Im September 2025 holte sie bei der Paraclimbing-Weltmeisterschaft in Seoul Silber.
Dass Linda heute auf Wettkampfbühnen steht, ist keine Selbstverständlichkeit. Mit Ende vierzig erkrankte sie an Makuladegeneration, einer unheilbaren Netzhauterkrankung. „Am Anfang wollte ich es nicht wahrhaben. Ich dachte, das wird schon wieder. Dann ist es ziemlich schnell schlimmer geworden, und ich habe zwei Jahre lang schwer damit gekämpft", erzählt sie im Podcast-Interview. Seit der Diagnose wurde Linda 19 Mal am Auge operiert, heute ist sie fast blind.
Linda Le Bon verlässt sich beim Klettern nicht auf ihren Sehsinn, sondern auf ihr Gehör.
Doch Stillstand kam für Linda, die in ihren Zwanzigern als eine der ersten Frauen den 8.201m hohen Cho Oyu ohne künstlichen Sauerstoff bestieg, nie in Frage: „Ich wusste, ich muss in Bewegung bleiben", sagt sie. Statt sich zurückzuziehen, suchte sie neue Wege. Heute zählt sie zu den besten Parakletterinnen der Welt und geht ihrer Bergsport-Leidenschaft nach wie vor mit Begeisterung nach.
Alles ist möglich. Wenn man vollblind klettern kann oder ein Querschnittsgelähmter auf den Armen hängend eine Route hochkommt – unmöglich gibt es nicht. Schwer schon.
Wenn Linda klettert, ist es beinahe still. Nur ihr rhythmischer Atmen ist zu hören – und die Stimme ihres Ansagers, Patrik Törnström. Ein Ansager, auch Guide oder Caller genannt, unterstützt Athletinnen und Athleten mit bestimmten Behinderungen bei der Sportausübung. In Lindas Fall funktioniert das durch verbale Anweisungen. Patrik fungiert, wenn man so will, als Lindas zweites, funktionierendes Paar Augen: „Ich übernehme quasi den Sehsinn von Linda“, erklärt er. Linda tastet sich beim Klettern anhand von Patriks Worten Stück für Stück nach oben und vertraut voll und ganz auf die Stimme, die sie leitet. Dieses Vertrauen ist das Fundament ihres Erfolgs.
Die Berge spüren
Nicht nur in der Kletterhalle, auch draußen in den Bergen, verlässt sich Linda auf ihre anderen Sinne. Beim Wandern stützt sie ihr Gewicht auf Wanderstöcke, mit denen sie Unebenheiten, Felsen und Wurzeln ertastet. Ihrem Blindenführhund Buddy hat sie beigebracht, sie auf Wanderwegen zu führen. „Er geht an einer kurzen Leine vor mir, ich sehe seine Bewegung und folge ihm. So schaffen wir viel", erzählt Linda. Ein weiterer wichtiger Faktor, der Linda bei ihren Bergtouren hilft, ist ihr visuelles Gedächtnis.
Linda Le Bon steht für etwas, das weit über den Klettersport hinausgeht. Sie zeigt, wie man Verlust in Stärke verwandeln kann. „Man kann dankbar für alles sein, was man noch erleben darf. Wichtig ist, dass man in Bewegung bleibt – am liebsten in den Bergen und in der Natur", sagt sie. Lindas nächstes großes Ziel sind die Paralympischen Spiele 2028 in Los Angeles – dort wird Paraklettern zum ersten Mal olympisch sein.
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