Eine kurze Geschichte der Freiheit

Text: Martin Foszczynski, Illustration: Romina Birzer

Im Mittelalter kam es nur wenigen in den Sinn, auf einen Gipfel zu steigen – den Sitz von Dämonen und Geistern. Der Platz der Erdbewohner befand sich am Fuße der Berge. Wenn Kant die Aufklärung als den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit definiert, so war es auch ein Stück weit ein Aufstieg.

Von den ersten Gipfelstürmerinnen über todesmutige Free-Solo-Abenteuer bis hin zum Massentourismus und virtuellen Klettern – wir zeichnen anhand von Schlüsselmomenten die Geschichte der Freiheit am Berg nach, in der sich zugleich die Geschichte der Emanzipation, der Freiheitsbewegung und vieler weiterer Entwicklungen spiegelt. Und wir spüren Kipppunkte auf, an denen sich diese Freiheit in ihr Gegenteil verkehrte.

Biblische Zeit & Altertum

Am Berg Gott nahe sein

Circa 8. Jahrhundert vor Christus: Mose empfängt auf dem Berg Sinai von Gott die Zehn Gebote.

Blick auf den Berg Tabor um 1850 – gemalt von Catherine Tobin

Biblische Gestalten des Alten Testaments zog es immer wieder auf einen Berg, um Gott nah zu sein. Abraham stieg auf Gottes Geheiß auf einen Berg, um seinen einzigen Sohn zu opfern, wozu es zum Glück nicht kam, weil ihn der Engel des Herrn rechtzeitig davon abhielt.

  • Mose erhielt auf dem Berg Sinai – man vermutet seine Lage auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel – von Gott die Zehn Gebote. Auf dem 588 Meter hohen Berg Tabor im Norden Israels (hebräisch: tabbur, „Nabel der Welt“) wiederum erschien Jesus den Jüngern in göttlicher Gestalt.

    Die Beziehung dieser gottesfürchtigen antiken Helden zum Berg kann zwischen Erlösung und Furcht angesiedelt werden. Bis heute sind Berge göttliche Sphäre: Der 2.918 Meter hohe Olymp an der Ostküste Griechenlands gilt als Sitz der griechischen Götter. Der chinesische Buddhismus zählt neun heilige Berge. Auf dem Gipfel des 6.638 Meter hohen Kailash in Tibet (im Sanskrit „Meru“, das Zentrum des Universums) haust Gott Shiva, allerdings ist die schneebedeckte Pyramide Tibetern und Hindus so heilig, dass sie nur umrundet, nicht aber bestiegen werden darf.

    Neben der Hoffnung auf Gottesheil trieb es die Helden der Antike auch aus höchst profanen Gründen ins Gebirge – etwa um feindliche Heere anzugreifen. Der aus Karthago im heutigen Tunesien stammende Feldherr Hannibal schaffte es 218 vor Christus mit 37 Elefanten und mehr als 50.000 Soldaten über die Alpen (vermutlich über den Pass Col de Clapier), um den Römern anfangs verheerende Niederlagen zuzufügen. Ob er die alpine Landschaft als bereichernd empfand, lässt sich nicht sagen (die Elefanten rutschten beim Abstieg im Schnee ordentlich herum) – in jedem Fall half sie mit, die Freiheit Karthagos zu verteidigen.

Mittelalter

Der Reiz des Verbotenen

663 nach Christus: Der Mönch En no Gyōja steht als erster Mensch auf dem 3.776 Meter hohen Fuji in Japan.

Der Mönch En no Gyo¯ja

Den Menschen des Mittelalters zog es für gewöhnlich nicht in hohe Sphären. Sein Platz war unten im Tal, am Fuße der Berge. Auf den Gipfeln hingegen tummelten sich Dämonen, böse Geister und wilde Tiere. Kam etwas von oben, war es zumeist nichts Gutes – Lawinen und Erdrutsche etwa. Selbst der Anblick der Berge löste in unseren Vorfahren keine sehnsüchtigen Gefühle aus – als wüst und bedrohlich empfanden sie vor allem die hochalpinen Landschaften.

  • Dennoch suchten sie gelegentlich Wege durchs Gebirge – um es für die landwirtschaftliche Nutzung zu erschließen, Handel zu treiben, an alpine Salzlager zu gelangen oder um Gämsen und Steinböcke zu jagen. Bereits in der Jungsteinzeit, vor über 5.000 Jahren, trieb sich „Ötzi“ auf über 3.000 Metern Höhe herum, wie der Fund der berühmten Eismumie im Jahr 1991 belegte.

    So manch Abenteuerlustiger bestieg aber auch schon im Mittelalter einen Gipfel. Interessanterweise waren es vorwiegend Geistliche: Im Jahr 663 steht der Legende nach der Mönch En no Gyōja als erster Mensch auf dem 3.776 Meter hohen Fuji in Japan. In der Schweiz bestiegen im Jahr 1387 sechs Luzerner Geistliche den Pilatus – und das, obwohl es ihnen ihre Vorgesetzten unter Androhung des Kerkers verboten hatten, da sie auf dem Berg den jähzornigen Geist des Pilatus vermuteten.

    Was die bergfesten Mönche dort oben suchten, ist nicht überliefert – man kann es nur vermuten. Vielleicht wollten sie der Tristesse des Alltags zu entfliehen? Vielleicht nahmen sie schon den Geist Giovanni Gnifettis vorweg, jenes Pfarrers, der 1831 als erster Mensch die 4.554 Meter hohe Signalkuppe im Monte-Rosa-Massiv bestieg (siehe Kapitel: Das Zeitalter der Pioniere). Ohne triftigen Grund, von der einfachen Lust angezogen, „die Großartigkeit der Werke des Schöpfers aus der Nähe zu betrachten“. Ein höchst moderner Gedanke und ein großer Schritt zur Freiheit.

Neuzeit

Die Geburtsstunde des Bergsteigens

26. April 1336: Der italienische Dichter Francesco Petrarca erreicht den 1.912 Meter hohen Gipfel des Mont Ventoux in der französischen Provence.

Der Mont Ventoux in der französischen Provence heute (Foto: mauritius images)

Der Aufstieg Petrarcas auf den nur 1.912 Meter hohen Mont Ventoux, den Radsport-Fans als legendäres Bergetappen-Ziel der Tour de France kennen, mag vor den Leistungen des modernen Alpinismus verblassen. Trotzdem gilt er als Geburtsstunde des Bergsteigens.

  • Aus seinen literarischen Aufzeichnungen geht klar hervor, dass er den kahlen Kegel in der Provence nicht etwa im Namen eines Auftraggebers und auch nicht aus irgendwelchen praktischen Gründen, sondern „allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen“, bestieg. Er formuliert damit, als einer der Ersten, ein „modernes Empfinden“ gegenüber den Bergen.

    Neben diesem neuen Naturbewusstsein entfernt sich Petrarca noch aus einem weiteren Grund mit jedem Schritt Richtung Gipfel auch einen Schritt weg von der Denkweise des Mittelalters: Er verändert seine Perspektive – bisher hatte der Mensch ja seinen Platz unten einzunehmen – und erkennt im Blick von oben, welche Fähigkeiten im Einzelnen schlummern, sobald er den Mut fasst, loszugehen. Petrarca erlebte damit erstmals, was den modernen Alpinismus im Kern heute noch ausmacht: den Aufstieg in unbekannte Höhen zur Konfrontation mit dem eigenen Ich (siehe auch Kapitel: Free Solo).

Die Zeit der Pioniere

Sturm auf die Gipfel, Sehnsucht nach der Ferne

14. Juli 1865: Der 25-jährige Brite Edward Whymper bezwingt das Matterhorn – den letzten noch unbestiegenen 4.000er der Alpen.

So sahen Expeditionen zum Gipfel des Mont Blanc zur Zeit der Pioniere aus (Foto: mauritius images)

Die genaue Geburtsstunde des Alpinismus ist umstritten. 1786 erreichen Jacques Balmat und Michel-Gabriel Paccard als Erste den Gipfel des Mont Blanc – mit 4.808 Metern der höchste Berg der Alpen. Doch auch die Erstbesteigung des Ankogels (im Grenzgebiet von Kärnten und Salzburg) im Jahr 1762 gilt als entscheidender Meilenstein, wurde damit doch zum ersten Mal ein vergletscherter Alpengipfel mit über 3.000 Metern Höhe bezwungen – übrigens von einem wagemutigen Bauern namens Patschg.

Fest steht jedenfalls, dass spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts ein regelrechter Sturm auf die höchsten Gipfel der Alpen losgetreten wird. Die kommenden 100 Jahre gelten als „Goldenes Zeitalter des Alpinismus“. Während es vordergründig oft noch um die Vermessung der Berge geht, verbirgt sich unter dem Deckmantel naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zunehmend nichts anderes als eitler Ehrgeiz.

  • Es waren erstaunlich oft Briten, die die Verlockung des Abenteuers in entlegene Westalpen-Täler lockte, um – in den allermeisten Fällen mithilfe heimischer Bauern und Bergführer – die noch verfügbaren Gipfeltrophäen einzusacken. Und: Es handelte sich meist um gut situierte Männer. Die Freiheit des Abenteuers war an Vermögen gebunden. Das frühe Bergsteigen als „Sport der Sirs“ zu bezeichnen ist nicht ganz falsch. Einer der Bekanntesten, der Brite Edward Whymper, bestieg 25-jährig als Erster das Matterhorn. Ebenfalls auf dem Gipfel standen an diesem Tag auch die Zermatter Bergführer Peter Taugwalder Vater und Sohn – einfache Leute aus dem Bergbauern-Milieu. Vier Teilnehmer der von Whymper im Wettlauf um die Erstbesteigung überhastet zusammengestellten Seilschaft stürzten beim Abstieg tödlich ab. Das dünne Hanfseil der Matterhorn-Tragödie liegt heute im Museum von Zermatt.

    Im 19. Jahrhundert internationalisiert sich das Abenteuer auch. Auf der Suche nach alpinen Herausforderungen zieht es Bergsteiger in die weite Welt: Edward Whymper besteigt fünfzehn Jahre nach dem Matterhorn den 6.263 Meter hohen Chimborazo in Ecuador. Auch die Einheimischen werden flügge: Matthias Zurbriggen, in der Walliser 60-Seelen-Gemeinde Saas-Fee geboren, steht 1897 im Zuge einer Expedition des Briten Edward Fitzgerald als erster Mensch auf dem Aconcagua in Argentinien – mit 6.962 Metern höchster Gipfel der Neuen Welt. Sein nächstes Ziel war der Himalaya – abstürzen sollte er aber erst nach der Rückkehr in seine Heimat, wo er zum Landstreicher und Trinker wird und sich schließlich 1917 in Genf erhängt.

Frauen am Berg

Der steinige Weg zur Emanzipation

16. Mai 1975: Die Japanerin Junko Tabei steht als erste Frau auf dem Gipfel des Mount Everest.

Die Japanerin Junko Tabei war die erste Frau, die den Everest erklimmen konnte (Foto: Wikipedia/ Jaan Künnap – zu sehen ist Junko Tabei im Jahr 1985)

Die erste Frau auf dem höchsten Gipfel der Erde war eine nur 1,50 Meter große Japanerin – und sie musste sich diesen Meilenstein in der Geschichte des Alpinismus hart erkämpfen. Nicht nur wurde Junko Tabei im Aufstieg von einer Lawine begraben (ihr Sherpa rettete sie nach sechsminütiger Bewusstlosigkeit). Im Vorfeld der Everest-Expedition wünschte sich ihr Mann – ebenfalls Bergsteiger und der Gefahr des Vorhabens gewahr – noch ein Kind von ihr. Als Tabei die Anmeldung einreichte, war sie im vierten Monat schwanger.

Damit steht die 2016 verstorbene Pionierin aus Japan sinnbildlich für die weibliche Emanzipation am Berg im Allgemeinen. Der Freiheit am Berg ging für Frauen eine Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen voran. Für die frühen Bergsteigerinnen bedeutete das Heraustreten aus dem ihnen zugewiesenen Umfeld der Familie eine mindestens so große Kraftanstrengung wie die alpinistischen Leistungen selbst.

  • Und diese waren gewaltig: Im Sommer 1898 – in einer Zeit, als es für Frauen als absolut unangemessen galt, zu klettern – überschreitet die Irin Elizabeth Main zusammen mit Evelyn McDonnell ohne Führer den Piz Palü (3.900 m) – möglicherweise die erste rein weibliche Gipfelbesteigung in der Geschichte des Alpinismus. 1907 gründet Main in London den „Ladies’ Alpine Club“, den ersten alpinistischen Verein für Frauen.

    Erst nach dem Zweiten Weltkrieg verschob sich der Fokus zunehmend vom Geschlecht auf das bergsteigerische Können. Zwischen 1963 und 1975 kletterte Yvette Vaucher alle sechs großen Nordwände der Alpen. Athletinnen wie Catherine Destivelle und Luisa Iovane führten das Frauenbergsteigen konsequent an das Niveau der Männer heran. 1978 steht Wanda Rutkiewicz als erste Europäerin auf dem Everest – und träumt davon, auch alle weiteren Achttausender zu besteigen. In großen Höhen, so die furchtlose Polin, die seit 1992 am Kangchendzönga in Nepal verschollen ist, gebe es keine Leistungsunterschiede zwischen Männern und Frauen mehr. Rutkiewicz steht im Übrigen auch für den Freiheitskampf einer Bergsteigergeneration, die den Repressionen ehemals kommunistischer Länder zu entfliehen trachtete.

    Spätestens Lynn Hill zeigte der Männerwelt ihre Grenzen auf, als ihr 1993 die erste freie Besteigung der legendären „Nose“ der El-Capitan-Steilwand in Yosemite gelang – ein Bravourstück, das noch kein Mann vor ihr geschafft hatte (siehe auch Kapitel: Die 1960er- und 1970er-Jahre).

Die 1960er- und 1970er-Jahre

Die „Rucksack-Revolution“ und die Vertreibung aus dem Paradies

4. Juli 1970: In Stoneman Meadow im kalifornischen Yosemite-Nationalpark kommt es zu Schlägereien zwischen Hippies und Park-Rangern.

Das Amerika der 1950er-Jahre war kein guter Ort für Freigeister und Abenteurer. Vor allem in den Suburbs bestimmten Sicherheit und Komfort den Alltag. Was der wirtschaftliche Aufschwung an Wohlstand generierte, wurde eifrig in das konformistische Ideal eines Lebens zwischen Einfamilienhaus, Automobil und neuen Küchengeräten investiert.

Die Gegenbewegung ließ nicht lange auf sich warten – und sie flüchtete sich ins bergige Umland von San Francisco und Los Angeles. Noch vor der sexuellen Befreiung der Hippies traten die Beatniks mit ihrem exzessiven Vagabunden-Lebensstil auf den Plan. Einer ihrer berühmtesten Vertreter, der Schriftsteller Jack Kerouac, beschwor im Roman „The Dharma Bums“ nicht weniger als eine „Rucksack-Revolution“. Während die Protagonisten seines Kult-Buchs „On the Road“ noch per Anhalter die Weiten der USA durchquerten, machen die Dharma Bums („Zen-Vagabunden“) nunmehr die Gipfel der Sierra Nevada unsicher. Auf Bergen wie dem Matterhorn Peak suchen die Möchtegern-Bergsteiger die buddhistische Erfahrung, die in den späten 1950er-Jahren an der Westküste als alternativer Lebensstil um sich greift. Kerouac selbst verbrachte im Sommer 1956 tatsächlich 63 Tage als Beobachter in einer Holzhütte auf dem Desolation Peak im US-Bundesstaat Washington, nahe der Grenze zu Kanada.

  • Eine weitere Gruppe junger Rebellen formierte die neu entstehende Kletter-Szene. Die ersten Climber wagten sich noch mit Tennisschuhen und gestohlenen Seilen an die Felsen – und hatten denkbar wenig mit dem konventionellen, auf Sicherheit bedachten Bergsteigen der Zeit am Hut. Auf ihrer Suche nach Adrenalin-Kicks und Freiheit landeten sie schließlich im Yosemite-Nationalpark. Das „Valley“ bot sich mit seiner durch Gletscher geformten Granit-Felslandschaft zugleich als Rückzugsort und Spielwiese für das Ausloten der Grenzen von Schwerkraft an.

    Die Helden des „Golden Age of Rock Climbing“ verschoben diese Grenzen in ungeahnte Dimensionen: Royal Robbins, die spirituell veranlagte Kletter-Ikone jener Zeit, kletterte 1957 als Erster über die Nordwestwand des Half Dome. Sein großer Widersacher, der Brandy trinkende Rüpel Warren Harding, trug sich mit der fast zweijährigen (!) Besteigung des noch mächtigeren El Capitan („The Nose“) für immer in die Geschichtsbücher ein – er leitete damit auch das Zeitalter des Big-Wall-Kletterns in Yosemite ein. Lynn Hill wird die „Nose“ 1993 als erster Mensch frei durchsteigen (siehe auch Kapitel: Frauen am Berg), Alex Honnold 2017 free solo (siehe auch Kapitel: Free Solo).

    Neben ihren sportlichen Höchstleistungen zeichneten sich die Kletter-Outlaws von Yosemite auch durch ihr Lotterleben aus. Sie pfiffen auf Jobs, aßen Katzenfutter und standen mit Autoritäten auf Kriegsfuß. Das sogenannte Camp 4, in dem reichlich Alkohol und Marihuana konsumiert wurden, entwickelte sich zu einem regelrechten Hort der Gegenkultur – und stand somit im krassen Gegensatz zu den Werten des Nationalparks, der sich als biederes Ausflugsziel für Familien und Rentner aus den Vorstädten verstand. Seit den späten 1960ern strömten noch viel mehr junge Leute aus der Bay Area in den Park und wurden seitens der Verwaltung als Belästigung empfunden.

    Am 4. Juli 1970 verdichteten sich die Spannungen zu den sogenannten Stoneman-Meadow-Unruhen, als Hippies (die die Sperrstunde missachteten) und Park-Ranger aufeinanderprallten. Es gab mehrere Verletzte und 150 Verhaftungen. Als Folge wurde Jugendlichen – insbesondere solchen mit langen Haaren oder in Vans – unter dem Vorwand strengerer Sicherheitskontrollen der Zutritt in den Park verwehrt. Die Vertreibung aus dem Paradies.

Free Solo

Die Freiheit des Lebens

3. Juni 2017: Dem 31-jährigen US-amerikanischen Extremkletterer Alex Honnold gelingt die erste Free-Solo-Begehung an der 975 Meter hohen Steilwand El Capitan.

„Free Solo“ bedeutet: allein, kein Seil, keine Sicherungen. Nur mit Händen, Füßen und einem unerschütterlichen Vertrauen ins eigene Können tasten sich die Kletterer den Fels hoch – in Alex Honnolds Fall die legendäre, beinahe 1.000 Meter hohe Steilwand El Capitan in Yosemite. Als Zuseher – Honnolds Husarenstück wurde in der Oscar-prämierten Doku „Free Solo“ verewigt – kann man kaum hinsehen, zu schmal scheint an vielen Stellen der Grat zwischen Halt und Absturz. Während seines Aufstiegs musste Honnold neben glatten Felsabschnitten und weit voneinander entfernten Grifflücken auch schmale Vorsprünge meistern, die er nur erreichen konnte, indem er sich mit den Füßen abstieß.

Free Solo definiert eine neue Dimension von Freiheit – letztlich auch die Freiheit, seinen Traum mit dem eigenen Leben zu bezahlen. Um einen Adrenalinrausch ging es Honnold am „El Cap“ aber nicht, das sei während einer Zeitspanne von vier Stunden auch gar nicht möglich. Er beschreibt den Jahrhundert-Aufstieg eher als „meditativ und ruhig“.

  • Er sei der Perfektion des Kletterns gleichgekommen – und es fühle sich gut an, für eine kurze Zeit perfekt zu sein, insbesondere für einen Menschen, der im Leben wenig zustande bringt. Was er ebenfalls sagte: „Jeder kann sterben. Free Solo macht es nur näher und präsenter.“

    US-Kletterer Tommy Caldwell bezeichnete Honnolds El-Capitan-Besteigung als „Mondlandung des Free-Solo-Kletterns“. Diese extremste aller Kletterarten wurde aber schon viel früher betrieben. 2008 bezwang der mittlerweile tödlich verunglückte Schweizer Speedkletterer Ueli Steck die Eiger-Nordwand über die Heckmair-Route in 2 Stunden und 47 Minuten free solo – normalerweise braucht man für sie drei Tage.

    Alexander Huber kletterte 2004 den „Kommunist“ am Schleierwasserfall am Wilden Kaiser in Tirol – mit 5.14a das womöglich härteste, wenn auch recht kurze Solo, das jemals geklettert wurde.

    Bereits 1986 schaffte der deutsche Sportkletterer Wolfgang Güllich als Erster die Route „Separate Reality“ in Yosemite free solo – 24 Jahre bevor Alex Honnold es ihm gleichtat. Die Route ist für ihren ausgesetzten Überhang 200 Meter über dem Merced-Fluss bekannt. Am Ziel angelangt, meinte Güllich: „Es ist der Gedanke an den Tod, der uns an den Wert des Lebens erinnert.“

Das Social-Media-Zeitalter

Wenn die Freiheit kippt

30. Juni 2021: Eine bei Influencern beliebte Gumpe im Nationalpark Berchtesgadener Land wird fünf Jahre für Besucher gesperrt, damit sich Natur und Tiere nach dem menschlichen Ansturm erholen können.

Seit den 2010er-Jahren boomen eher konservative Naturerlebnisse wie Wandern und Campen auch bei der jungen Generation – ein Trend, den die vergangenen beiden Pandemie-Jahre zusätzlich befeuerten. Das neue Freiheitsgefühl an der Frischluft lockt Menschen in die Berge, die man dort nicht unbedingt vermutet hätte.

Gleichzeitig ermöglichen soziale Medien wie Instagram, Facebook und YouTube eine neue Inszenierung der Freiheit. Influencer, die ihren Lebensstil vermarkten, weiten diese Möglichkeiten in möglichst spektakuläre Berglandschaften aus. Auf ihren Erkundungstouren (die eher geplanten Punktlandungen gleichen) weicht die Selbstfindung oft der (Selfie-)Selbstdarstellung, der Naturreichtum der Reichweite. Landschaften werden zur Kulisse und zu „Hotspots“, die Nachahmer in Massen anziehen.

Plätze wie die Seiser Alm oder der Pragser Wildsee in Südtirol sind dadurch einem regelrechten Ansturm ausgesetzt. Die Naturparadiese leiden darunter: Es wird gezeltet, mit Drohnen geflogen, Lagerfeuer werden gemacht – auch in Naturschutzgebieten, wo all das untersagt ist. Oft lassen die Leute ihren Müll zurück und zertrampeln abseits der vorgesehenen Wege die Flora.

Es ist der Punkt, an dem die individuelle Freiheit kippt, da sie vom Kollektiv missbraucht wurde.

  • Als Konsequenz werden Restriktionen eingeführt. Am Schrecksee in Bayern – wegen seiner malerischen Insel ebenfalls ein Influencer-Pilgerziel – verhängt die Alpinpolizei vermehrt Strafen für illegales Campen im Naturschutzgebiet sowie für das Zurücklassen von Müll (bis hin zu Luftmatratzen). Der Landrat des Berchtesgadener Landes geht noch einen Schritt weiter und spricht im Sommer 2021 ein Betretungsverbot der Gumpen am Königsbach-Wasserfall („Infinity Pool“) aus. Vorangegangene Aufrufe der Nationalpark-Verwaltung, man möge zugunsten des Naturschutzes die mediale Ausschlachtung des Ortes unterlassen, blieben wirkungslos. Bis zu 350 Menschen pro Tag, manchmal nur mit Flipflops und Bikini bekleidet, bevölkerten das Foto-Ziel, das nur über zwei alpine, oft rutschige Steige zu erreichen ist. Die Berchtesgadener Bergwacht musste regelmäßig ausrücken, um verirrte Touristen zu bergen – im Frühjahr 2019 ertranken zwei junge Männer in dem Felsbecken.

    Internationale Beispiele für die Kehrseite der Freiheit finden sich zuhauf: Einige Regionen der nordischen Länder, in denen traditionell das „Jedermannsrecht“ auf freies Bewegen und Übernachten in der Natur herrscht, ächzen mittlerweile unter dem Touristenansturm (etwa die norwegischen Lofoten).

    2019 sperrt Island die Fjaðrárgljúfur-Schlucht für Touristen, nachdem zuvor hunderttausende Fans von Justin Bieber hingepilgert waren, der den spektakulären Canyon als Kulisse für einen Videodreh nutzte. Ebenfalls 2019 erfriert das als „Bikini Hiker“ bekannte taiwanesische Social-Media-Starlet Gigi Wu in einer Schlucht im Yushan-Nationalpark, nachdem es beim Aufstieg auf den höchsten Berg Taiwans abgestürzt war. Die junge Frau war durch leicht bekleidete Gipfel-Selfies bekannt geworden.

    Als krasses Gegenbeispiel zur alpinen Selbstdarstellung kann man Abenteurer wie Marc-André Leclerc ansehen. Der junge Kanadier (er ist 2018 im Alter von nur 25 Jahren verunglückt) kletterte derart wagemutige Solo-Routen von Patagonien bis Alaska, dass sich heute selbst Größen wie Alex Honnold oder Reinhold Messner vor ihm verneigen. Und er tat dies am liebsten allein – und ohne Kamera. Dass mit „The Alpinist“ über ihn ein Kinofilm entstand – dieses Unterfangen gestaltete sich denkbar schwierig –, ist paradox, aber auch ein Glück: Er legt ein eindrucksvolles Zeugnis über einen Außenseiter ab, der weder Telefon noch Auto besaß und allein beim Klettern im Grenzbereich des Möglichen Sinn im Leben fand.

Metaverse

Die Demokratisierung des Abenteuers?

28. April 2016: Das Virtual-Reality-Spiel „The Climb“ wird für Microsoft Windows gelauncht.

Selbst Ex-US-Präsident Barack Obama soll bei der Vorführung des bahnbrechenden VR-Spiels The Climb angetan gewesen sein. Die Präsentation im Weißen Haus 2016 verdeutlichte jedenfalls die kulturelle Bedeutung – und wohl auch das kommerzielle Potenzial – der Virtuellen Realität. Heute ist Metaverse sogar das Schlagwort der Stunde. Facebook, das sich kürzlich in Meta umbenannt hat, träumt von einer virtuellen Welt, in die wir zukünftig große Teile unseres Lebens verlagern sollen.

Auch das Naturerlebnis digitalisiert sich. Spiele wie „The Climb“ oder „Everest VR“ lassen per Virtual-Reality-Headset und Controllern jedermann/jedefrau Steilwände oder die höchsten Berge des Planeten besteigen, buchstäblich von der Couch aus (wir haben es ausprobiert). Mit zunehmender Computer-Rechenleistung nähern sich die virtuellen Welten dem Fotorealismus an, auch an der Atmosphäre wird getüftelt. Das gegenwärtige Leuchtturmprojekt der Szene ist eine eigens errichtete Halle in Luzern, in der VR-Technologie und die echte Welt verschmelzen. „The Edge“ simuliert die Besteigung des Matterhorns möglichst realistisch mit Kletterwand und Windeffekten.

  • Was auf den ersten Blick wie das Einlösen eines Heilsversprechens wirkt (im „Space“ ist das Abenteuer für alle möglich, unabhängig von Vermögen und körperlichen Fähigkeiten), muss bei genauerer Betrachtung zumindest relativiert werden. Zwar kostet eine VR-Brille, mittlerweile als Massenware im Elektronikhandel um rund 350 Euro erhältlich, nur den Bruchteil einer Everest-Expedition, für die man mindestens 30.000 Euro aufbringen muss. Doch geben selbst die Games-Entwickler zu: Etwas fehlt. VR-Brillen bleiben Behelfs-Apparaturen, die soziale Isolation implizieren und vor allem eines niemals werden bewerkstelligen können: die freie Entscheidung, vom vorgegebenen Weg abzuweichen. Die Grenzen der Matrix markieren in Zukunft die Grenzen der Freiheit.

Mehr zum Thema auf bergwelten.com

  • Vom Matterhorn in die Rockies: Schweizer Pioniere

    Mitte des 19. Jahrhunderts bricht das „Goldene Zeitalter des Alpinismus“ an, in dem vorwiegend britische Sirs zum Sturm auf die noch unbestiegenen Gipfel der Westalpen ansetzen. Doch es sind heimische Bergführer – besonders oft aus St. Niklaus im Wallis – , die ihnen zu ihren Siegen verhelfen.

  • 5 Portraits: Frauen am Berg

    Wir portraitieren fünf außergewöhnliche Alpinistinnen, die ihren Träumen folgten und Berggeschichte schrieben.

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    Am 29. Mai 1953 standen der Neuseeländer Edmund Hillary und der Nepalese Tenzing Norgay als erste Menschen auf dem Gipfel des Mount Everest (8.848 m). Höher kann man auf unserem Planeten nicht steigen.

 

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