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Wilde Wanda: Portrait einer Ausnahme-Bergsteigerin

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4 Min.

08.03.2021

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Charismatisch, eigensinnig, ihrer Zeit weit voraus: Wanda Rutkiewicz hätte als erste Frau alle 14 Achttausender besteigen können – doch 1992 verschwand sie am Kangchendzönga.

Text: Andreas Lesti (erschienen im Bergwelten Magazin Oktober/November 2017)

Die Liste ihrer Rekorde ist lang: 1973 kletterte sie als erste Frau im Winter durch die Eiger-Nordwand, 1978 stand sie als erste Europäerin auf dem Mt. Everest, 1986 stieg sie als erste Frau überhaupt auf den K2. 1992 hatte die Polin Wanda Rutkiewicz bereits acht Achttausender bestiegen – ebenfalls ein Rekord unter Frauen – und verfolgte unbeirrbar und ehrgeizig einen verwegenen bis wahnwitzigen Plan: Sie wollte innerhalb eines Jahres alle sechs weiteren Achttausender erreichen. Sie nannte ihr atemberaubendes Vorhaben „Karawane der Träume“. Heute würde man eher von einer „Speedbesteigungs- Serie“ sprechen. Doch dann kam der 12. Mai 1992, der Tag, an dem ihre Pläne, ihr Traum von allen Achttausendern und ihr Leben am Kangchendzönga auf 8.300 Metern endeten.

Wanda Rutkiewicz war in vielerlei Hinsicht eine außergewöhnliche Frau. Sie führte ihr Leben im Fast-forward-Modus, ohne Pause und immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen. Sie setzte Maßstäbe im Frauenbergsteigen, leistete aber mit der selbstbestimmten Art, mit der sie durchs Leben ging, auch darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zur Emanzipation jener Zeit.


Starke Frau in einer Männerdomäne

Diese Zeit beginnt in den späten 1960er-Jahren. Wanda Rutkiewicz, 1943 geboren, beginnt im Skalki-Klettergarten im Süden Polens zu klettern. Es ist der Auftakt einer Entwicklung, die nur möglich ist, wenn Begeisterung auf Talent trifft. Sie klettert bald in Norwegen und in den Alpen und entdeckt schnell ihre Leidenschaft für die ganz hohen Berge. 1970 reist sie mit einer polnischen Expedition zum Pik Lenin nach Russland, 1972 über den Landweg von Polen zum Hindukusch, 1975 leitet sie die erste polnische Frauenexpedition zum Gasherbrum III, mit 7.952 Meter Höhe der damals höchste unbestiegene Berg der Erde – und erreicht den Gipfel. Und zwischen den Expeditionen macht sie mit Winterbegehungen der Eiger- und der Matterhorn-Nordwand von sich reden.

Alpinismus war in den 1970er-Jahren eine Männerdomäne. Es war die große Zeit von Walter Bonatti und Maurice Herzog, von Kurt Diemberger und dem jungen Reinhold Messner; Karl Maria Herrligkoffer und Norman Dyhrenfurth organisierten Himalaya-Expeditionen; und der letzte Achttausender, der Shishapangma, war erst ein paar Jahre zuvor bestiegen worden. Kurzum: Viele große alpinistische Pionierleistungen waren noch nicht vollbracht, vor allem nicht von Frauen, die man bis dahin allenfalls zum Teekochen ins Basislager mitgenommen hatte.

Das war Wanda Rutkiewicz eindeutig zu wenig. Sie sah nicht ein, warum nicht auch sie auf den Gipfeln stehen sollte. Ihrer Zeit weit voraus, stellte sie das System infrage und analysierte: „Die Leistungsunterschiede zwischen Männern und Frauen schienen sich in großen Höhen vollkommen auszugleichen. Also überlegten wir Frauen, wenn wir auf 7.500 Meter klettern können, warum nicht auf 8.000.“ Sie wollte aber nicht nur auf einen Achttausender. Sie wollte auf alle. 

„Sie war eine faszinierende und charismatische Person“, sagt Gertrude Reinisch aus Steyr in Oberösterreich über sie, und ihre Bewunderung ist sogar durchs Telefon zu spüren. „Aber sie war auch eigensinnig und völlig unberechenbar“, fügt Reinisch hinzu, die mit ihr 1990 im Karakorum unterwegs gewesen war und später ein Buch („Karawane der Träume“, Bergverlag Rother) über sie geschrieben hat.


Unabhängig und stur

Als Wanda im Jahr 1975 nicht zur polnischen Expedition zum 8.516 Meter hohen Lhotse mitgenommen wurde, organisierte sie zum Beispiel kurzerhand selbst eine Expedition. „Alle Versuche, meine Unabhängigkeit einzugrenzen“, sagte sie, „betrachte ich als Aggression, auf die ich mit Sturheit reagiere, anstatt mich zu beugen.“ Oder die Geschichte aus dem Jahr 1982, als sie sich von einem gebrochenen Bein nicht daran hindern ließ, auf Krücken 150 Kilometer durch schwieriges Terrain bis zum Basislager des K2 zu humpeln. Und dann die Idee, als erste Frau alle 14 Achttausender zu besteigen.

„Sie war besessen von diesem Plan, wollte der weibliche Reinhold Messner sein. Keine Frau vor und nach ihr hat Achttausender-Expeditionen mit dieser Vehemenz betrieben“, sagt Gertrude Reinisch. „Aber auf diese Berge kommst du nur mit viel Sturheit und Egoismus.“

Wandas Plan geht allerdings nicht auf. Sie mutet sich zu viel zu, ist nicht gut vorbereitet und ausgelaugt, als sie im Mai 1992 zum Kangchendzönga aufbricht. „Sie hätte ihr Ziel erreichen können, aber nicht innerhalb dieses gesetzten Zeitrahmens. Die Erholungsphasen waren zu kurz oder gar nicht vorhanden“, sagt Reinisch. Wanda war nach zwei gescheiterten Versuchen ein drittes Mal an den dritthöchsten Berg der Welt zurückgekehrt. Sie quält sich bis auf 8.300 Meter, nur knapp 300 Höhenmeter unter dem Gipfel. Diesmal will sie es unbedingt schaffen. „Das war so ein Ding bei Wanda“, sagt Gertrude Reinisch. „Beim dritten Versuch muss man hinauf.“

Doch an jenem Tag muss sogar sie einsehen, dass es nicht geht. Sie biwakiert, obwohl sie keinen Schlafsack, keinen Kocher und auch keine Verpflegung dabeihat, und will es am nächsten Tag versuchen. Mit dabei ist der mexikanische Bergsteiger Carlos Carsolio, der allein zum Gipfel weitergeht. Als er absteigt, ist er der letzte Mensch, der Wanda Rutkiewicz lebend sieht. „Wahrscheinlich“, sagt er später, „hätte ich sie überreden sollen, mit mir abzusteigen. Aber sie war nur auf den Gipfel konzentriert.“ Reinisch meint dazu: „Wer Wanda gekannt hat, weiß, dass das ein unmögliches Unterfangen war. Carsolio hätte sie schon k.o. schlagen und nach unten schleifen müssen.“

Was nach Carsolios Abstieg passiert ist, weiß niemand. War Wanda Rutkiewicz noch auf ihrem neunten Achttausender? Ist sie abgestürzt? Oder ist sie in ihrem Biwak erfroren? Ihre Leiche wurde jedenfalls nie gefunden.