Interview

Bergwandern auf Krankenschein

Ökomediziner Dr. Arnulf Hartl erklärt, warum uns die Natur nicht nur vor Krankheiten schützt, sondern auch gesund und glücklich machen kann.

Interview: Klaus Haselböck, Illustrationen: Sandra Neuditschko

Bergwelten: Wenn ich diesen Sommer Sport betreiben möchte: Soll ich lieber Tennis spielen oder in Berge gehen? 

Dr. Arnulf Hartl: Wie jede Bewegung ist das Tennisspielen gesundheitsfördernd. Es wirkt auf Herz und Lunge, stärkt die Muskulatur, und es baut durch die harte Stop-and-Go-Bewegung die Knorpel auf. Außerdem fördert es die kognitive Leistungsfähigkeit: Einen 200 km/h schnellen Ball als Volley zu nehmen ist schon eine herausragende Leistung in Sachen Augen-Hand-Koordination. 

Dem Tennis fehlen als Sport allerdings Parameter wie der dreidimensionale Raum, also die Höhe und der unebene Untergrund, die der Berg exklusiv für sich verbuchen kann: Der Platz ist flach und die Abläufe in einem Höchstmaß ident. Am Berg sind permanent andere Bewegungen notwendig, um über Steine und Wurzeln in Balance zu bleiben. Das baut Muskeln und den Gleichgewichtssinn in jeder Altersgruppe stark auf. 

Spielt die stadtnahe Lage von Tennisplätzen auch eine Rolle? 

Die Plätze sind tiefer gelegen als die Gipfel. Das beeinträchtigt die vitalisierende Wirkung für den Blutaufbau, und die Luft ist dort auch schlechter. Mit jedem Meter, den wir nach oben steigen, wird die Luft sauberer. In der Höhe nimmt auch die UV-Strahlung zu, und wir produzieren Vitamin D. Relevant sind auch die psychologischen Effekte: Etwas von Menschen Geschaffenes wie der Tennisplatz, zieht uns nicht so an. Tief drinnen haben wir eine Liebe zum Lebendigen, es zieht uns in die Natur. Weil wir lieber draußen unterwegs sind, nehmen wir in den Bergen die körperliche Belastung weniger als Anstrengung wahr. 

Sind die Berge also gesünder als das Tal? 

Ja, selbst wenn man sich dort oben wenig bewegt, hat man durch die Höhe Effekte auf die roten Blutkörperchen. Wir bauen Stammzellen auf, die unsere Blutgefäße auskleiden, und senken dadurch unser Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. 

Ein weiterer Benefit ist die Biodiversität am Berg: Wir haben eine unglaublich hohe Mikro-Biodiversität auf den Almen, die durch die jahrhundertelange natürliche Düngung noch artenreicher geworden ist. Das zahlt auf unser Immunsystem ein – je höher die Biodiversität im Außen ist, desto höher ist sie auch im Innen: Wir werden von Mikroorganismen besiedelt, die in ihrer Wirkung präventiv sind. Wir können uns das wie eine sanfte natürliche Impfung vorstellen. Da ist der urbane Raum vergleichsweise verarmt – die Biodiversität ist dort um den Faktor zweihundert geringer. Also auch am Tennisplatz. 

Wenn man Ihnen zuhört, bekommt man fast Angst vor der Stadt: Ist die Urbanisierung für die Gesundheit des Menschen eine einzige Fehlentwicklung? 

Es hat viele Benefits, in der Stadt zu wohnen, von den Arbeitsplätzen bis zur Kinderbetreuung und der Freizeitgestaltung. Es gibt schon Gründe, warum wir in die Stadt ziehen. Wenn wir aber den Anstieg der Erkrankungen betrachten, die mit urbanen Räumen in Verbindung gebracht werden können, ist das schon erschreckend: In der Stadt hat ein Mann ein um 190 Prozent höheres Risiko, an Schizophrenie zu erkranken, als einer, der am Land wohnt. Für beide Geschlechter besteht eine um 40 Prozent höhere Depressionsrate im Vergleich zum Land. Jeder sechste Todesfall in der Stadt ist auf Lungenerkrankungen zurückzuführen, die feinstaubbedingt sind. Reinluftgebiete wie die Hohen Tauern spielen da in einer ganz anderen Liga. 

Zumindest unsere Freizeit verbringen wir lieber am Berg: Muss ich bergauf gehen, um eine gesundheitliche Wirkung zu spüren? Muss es also unbedingt anstrengend sein? 

Viel hilft viel. Das Bergaufgehen fördert Herz und Lunge in besonderem Maß. Aber nicht nur das: Durch das Bergabgehen werden auch der Gleichgewichtssinn und die Muskulatur der Beine gestärkt – am effektivsten, wenn man ohne Stöcke absteigt. Dann hat man einen radikalen Muskelaufbau respektive einen Muskelkater in den Waden. Das kennt man, das wirkt. 

Foto: Elias Holzknecht

„Man sollte sich die Zeit gönnen, ein, zwei Wochen unterwegs zu sein, wenn man die Batterien aufladen möchte und nachhaltige Effekte sucht.“

Foto: Elias Holzknecht

Welche Höhe ist notwendig, damit wir profitieren? 

Wenn ich auf Meereshöhe lebe, wird für mich schon ein 700 Meter hoher Berg einen Unterschied machen, wie viel Sauerstoff sich im arteriellen Blut löst, und das schlägt sich dann auch in der Blutbildung nieder. Lebe ich auf 1.300 Metern, wie in Heiligenblut in Kärnten, dann muss ich schon weiter rauf, um auch so einen Effekt zu haben. Es geht nicht um die absolute Höhe, sondern um die Differenz. 

Glücksgefühle werden oft mit Bergen in Verbindung gebracht: Lässt sich dieser Begriff auch wissenschaftlich fassen? 

Die Forschung dazu ist in der empirischen Wissenschaft sehr weit gediehen. Glück ist sehr gut messbar und hängt mit Gesundheit, Mobilität und Mortalität zusammen. Wir verwenden eine „Flourishing Scale“, um das Aufblühen in den Bergen psychologisch zu erfassen. Von validierten Fragebögen kann man ablesen, wie viel positive Effekte selbst drei Tage am Berg hervorbringen. Wir können die Bewegung in der Natur durch regelrechte Hormon-Kaskaden dokumentieren. Das Stresshormon Cortisol wird schnell abgebaut und das Schlafhormon Melatonin besser aufgebaut. Unsere Forschungen machen deutlich, dass der Mensch längst nicht mehr nur dualistisch zu betrachten ist: Geht’s dem Körper gut, dann geht’s der Lunge gut, dann geht’s dem Herzen gut, und der Psyche geht’s dann auch gut – und umgekehrt. 

Braucht es eine „Quality Time“, also ein bewusstes Einlassen auf die Zeit in der Natur, oder funktionieren die Berge immer, also auch abseits von Urlaub und guter Stimmung? 

Die Zeit an sich ist ein ganz wichtiger Faktor. Wenn wir diese Weekend Warriors sind, die in drei Tagen für das resilient werden wollen, was ihnen im Arbeitsalltag passiert, dann reicht das einfach nicht. Eine messbare Wirkung tritt ab einer Woche ein. Das kann man dann natürlich steigern. Man sollte sich die Zeit gönnen, ein, zwei Wochen unterwegs zu sein, wenn man die Batterien aufladen möchte und nachhaltige Effekte sucht. Je höher die Dosis, desto besser die Wirkung. 

Berge sind kein Happyland: Abseits von Gefahren wie Steinschlag oder dem Ausrutschen, steigert man in der Höhe auch das Risiko für Hautkrebs. Gibt es ein Zuviel an Bergen? 

Die stärksten Effekte hat man bei moderatem Sport. Wenn man an die Leistungsgrenzen geht, wirkt das immunsupprimierend, es unterdrückt also das Abwehrsystem. Spitzensportlerinnen und -sportler erkranken oft nach Bewerben an Infektionserkrankungen, weil sie durch die Erschöpfung ein immunologisches Loch haben. Deshalb ist es gut, sich moderat und nicht zu weit außerhalb des Ruhepulses zu bewegen. 

Da die Fakten dank Studien eigentlich am Tisch liegen: Wann wird es Bergurlaub auf Krankenschein anstelle einer Verschreibung von Medikamenten geben? 

Covid-19 hat diesen Prozess beschleunigt: Infolge der Quarantäne gab es enorme Zuwächse an Depression und Alkoholismus. Die dunkle Seite, wenn Menschen nicht in die Natur gehen, ist uns sehr bewusst geworden. Das hat bei Präventionsprogrammen zu Dynamik geführt: Krankenkassen wollen für das Wandern als Covid-Rehabilitation zahlen, und zum Beispiel leite ich jetzt das internationale EU-Projekt „Healing Alps“. Da arbeiten wir mit den Partnern in Frankreich, Slowenien, der Schweiz, Deutschland, Italien und Österreich zusammen, um das Thema „Heilkraft der Alpen“ auszurollen. Da entsteht europaweit ein politischer Druck auf Basis von Forschungen. Wir haben über die letzten Jahre auch erkannt, dass der Berg viel mehr kann als nur Prävention. Therapeutische Prozesse und Anwendungen aus der Rehabilitation funktionieren am Berg sehr, sehr gut. 

Ein Aspirin bei Kopfschmerzen, ein Besuch bei den Krimmler Wasserfällen bei Asthma: Lässt sich das schon so weit herunterbrechen? 

Durchaus. Wir können etwa Wanderwege je nach ihrer Beschaffenheit bereits bestimmten Krankheitsbildern zuordnen und entwickeln immer mehr Verständnis für konkrete Behandlungsmöglichkeiten. Zukünftige Rehabilitationen dürfen wir uns in einem Hotel-Kontext vorstellen, wo dann geschulte Therapeutinnen zur Verfügung stehen. 

Und es gibt jetzt schon Regionen wie Gastein, die nach einer Durststrecke mit dem klassischen Kurbetrieb auf „Nature-based Therapy“ setzen. Früher oder später wird das im primären Gesundheitssystem aufschlagen. Das ist schon sehr spannend. 

Wissen

In einigen wissenschaftlichen Studien wurden die gesundheitlichen Aspekte des Wanderns und der Berge untersucht. Eine Auswahl.

  • In einer Studie des Österreichischen Alpenvereins, die 2016 veröffentlicht wurde, untersuchten Medizinerinnen und Mediziner die langfristigen und unmittelbaren Effekte des Bergsports.

    Dabei wurden die Probanden unter anderem in drei verschiedenen Situationen untersucht: Beim Bergwandern in freier Natur, bei einer Indoor-Laufbandsituation mit vergleichbarer Intensität und Dauer der Kraftanstrengung und bei einer Kontrollsituation in sitzender Tätigkeit.

    Die Studie zeigte unter anderem, dass Bergwandern zu unmittelbaren positiven Veränderungen der psychischen Befindlichkeit führt, und zwar sowohl im Vergleich zur sitzenden Kontrollsituation sowie der Bewegung am Laufband.

    Quelle: Fachsymposium „Bergsport und Gesundheit”

  • Die Austrian Moderate Altitude Study 2000 (AMAS 2000) untersuchte die gesundheitlichen Aspekte eines Urlaubs in den Bergen in unterschiedlichen Höhenlagen und verglich sie mit etwa ident verbrachten Urlauben in Tal-Lage.

    Die Studie wurde mit Personen durchgeführt, die unter dem metabolischem Syndrom leiden, zu dem Bluthochdruck, Adipositas und Fettstoffwechselstörungen zählen.

    Laut den Studienergebnissen kam es unter anderem zur Reduktion des erhöhten Blutdrucks, Abnahme der Fettmasse ohne eigentliche Diät und einer Zunahme der Zufriedenheit.

    Quelle: Austrian Moderate Altitude Study 2000

  • Zur Wirkung von Wasserfällen gibt es mehrere Studien, exemplarisch dafür ist eine Untersuchung der Paracelsus Privatuniversität, die im Nationalpark Hohe Tauern durchgeführt wurde. Probandinnen und Probanden wurden in drei Gruppen unterteilt, wobei nur eine davon Wandern mit Aufenthalten an Wasserfällen kombinierte.

    Bei jener Gruppe, die sich gezielt an Wasserfällen aufhielt, konnte eine Verbesserung des Immunsystems der Schleimhäute und ein verbessertes subjektives Stressempfinden nachgewiesen werden.

    Quelle: Fachartikel „Does waterfall aerosol influence mucosal immunity and chronic stress? A randomized controlled clinical trial.“

 

Zur Person: Dr. Arnulf Hartl ist Immunologe und leitet das Institut für Ökomedizin der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg. Er forscht mit seinem Team an der medizinischen und psychologischen Wirkung der Natur auf die Gesundheit des Menschen. Derzeit leitet er zwei Cross-Border-EU-Projekte zu den Themenkomplexen „Immunologische und orthopädische Wirkung des Heilbadens und Wanderns auf Best Agers 65+“ sowie „Healing Alps 2“ zur Gesundheitswirkung der Alpen.

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