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Foto: Stefan Kürzi
Bouldern

Bouldern am Sustenpass

• 29. Oktober 2021
4 Min. Lesezeit

Der 2.224 Meter hohe Sustenpass trumpft mit Bouldern in feinstem Gneis auf. Noch dazu hat man diese an den meisten Tagen ganz für sich allein.

Flo Scheimpflug für das Bergweltenmagazin Oktober/November 2018 aus der Schweiz

„Hey, der trägt ja seine Matratze mit sich herum", hörte ich jemanden hinter mir rufen. Instinktiv wusste ich schon, was als Nächstes kommen würde, so etwas passierte mir ja nicht zum ersten Mal. Und richtig, in der nächsten Sekunde brach auch schon gellendes Gelächter los.

Sie hatten dichte Rauschebärte unter den dunklen Sonnenbrillen und waren von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gehüllt. Auf ihren Ärmeln prangten Totenköpfe und in Flammen stehende Kruzifixe. Gut zwanzig von ihnen saßen so auf ihren funkelnd polierten Harleys. Einige zeigten grinsend mit den Fingern auf mich, andere hatten schon ihre Handys im Anschlag oder hielten sich vor Lachen den Bierbauch.

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Und alles nur, weil ich ein Crashpad auf dem Rücken trug. Begegnungen dieser Art sind keine Seltenheit am Parkplatz Sustenbrüggli ganz oben am Sustenpass. Die meisten kommen ja wegen des beeindruckenden Ambientes, das von Ausblicken auf den Steingletscher und das Gwächtenhorn geprägt wird, und nicht wegen irgendwelcher Felsblöcke. Da wird man als ganz normaler Boulderer schnell zum Exoten. 

Die Kletterer am Weg zum nächsten Felsen.
Foto: Stefan Kürzi
Mit dem Crashpad auf dem Rücken geht es im Gänsemarsch von Felsblock zu Felsblock.

Durch Zufall entdeckt

Aber keine Angst, an spöttelnde Motorradgangs gewöhnt man sich schnell, noch dazu wird am Sustenpass in kletterischer Hinsicht einiges geboten. Und das geht schneller, als man denkt. Ist man erst einmal auf der Passhöhe von 2.224 Metern angekommen, braucht man bloß ein paar steinerne Stufen zu nehmen, dann ein paar Schritte über die Almwiese hinter dem Gasthof Sustenbrüggli zu machen, und flugs sind Parkplatztrubel, Kolonnenverkehr und der dazugehörige Lärmpegel im Hintergrund verschwunden.

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Im nächsten Moment ist man plötzlich allein mit einer Menge verdammt gut aussehender Gneisblöcke. Die Entdeckung des Bouldergebiets am Sustenpass verdankt sich einer glücklichen Fügung. Eigentlich wollte sich der Berner Kletterer Peter „Sam“ Abegglen im Sommer 1995 nur eine kleine Erfrischung im Restaurant Sustenbrüggli genehmigen, doch kaum hatte er den Motor abgestellt, stach ihm der gewaltige Felsblock ins Auge, an den sich das Gebäude schmiegt. Weil ein guter Block selten allein kommt, verschob Sam die Erfrischung auf später und ging noch ein paar Schritte.

Und siehe da, gleich hinter dem Haus. keine hundert Meter von der Straße entfernt, stieß er auf eine imposante Blockhalde, in deren Mitte sich ein lieblicher Gebirgsbach schlängelte. Die Felsen waren mit griffigen Leisten und Auflegern übersät, kletterbare Linien gab es in Hülle und Fülle. 

Boulderer stehen rund um den Fels.
Foto: Stefan Kürzi
Während die einen mit den Bouldern Bekanntschaft machen, gönnen sich die anderen eine Pause an der Sonne.

Bach und Blöcke

„Sind die Züge zu hart, bist zu schwach", lautet ein altes Boulderer-Credo. Doch es stimmt nicht immer. Zu hohe Temperaturen und zu viel Luftfeuchtigkeit machen selbst dem Stärksten der Starken einen Strich durch die Rechnung. Wenig ist für einen Boulderer am Block seiner Träume kontraproduktiver als weiche Haut und schwitzende Finger. Dann hilft auch das beste Chalk nichts mehr, schnell verwandelt es sich in eine schmierige, weiße Paste.

Als Folge davon nimmt die Reibung von Haut zu Fels rapide ab. Der Anpressdruck kann dann nur noch mit überproportionaler Kraftausübung aufrechterhalten werden. Mit anderen Worten: Für die gleiche. Anstrengung bekommt man bei warmen Temperaturen viel weniger Erfolgserlebnisse. Und wer will das schon? Ein Gebiet wie der Sustenpass, wo auf 2.224 Metern von Juni bis Oktober perfekte Bedingunen herrschen und ein oft von den Gletschern talwärts wehender Wind für maximale Grip-Optimierung sorgt, ist für Boulderer daher ein ideales Rückzugsgebiet an wärmeren Tage.

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Und so lernte auch Ueli Gygax das Gebiet zu schätzen: Kaum hatte er die ersten paar Blöcke hinter dem Sustenbrüggli inspiziert, da wusste er auch schon, dass er vielleicht nicht auf Gold, aber immerhin auf Gneis gestoßen war. Umso besser, denn der gilt in Boulderkreisen als die härtere Währung. Mit dem Erschließen leichter Boulder hielt er sich nicht lange auf. 

Die Kletterer beim überqueren des Baches.
Foto: Stefan Kürzi
Wer die ganze Blockhalde auskosten will, muss den Bergbach überqueren.

Vor allem die imposanten Linien, die sogenannten „Kinglines", zogen den in Luzern wohnhaften Ueli in ihren Bann. Seine Besuche auf dem Sustenpass wurden immer häufiger, die Zahl der Erstbegehungen stieg an. Mit „Queens of the Stone Age" gelang ihm einer der ersten Boulder im achten Schwierigkeitsgrad. Weitere, noch kniffligere folgten. Fingerprobleme, wie sie viele seiner Kletterfreunde plagen, kennt der Hardcore-Boulderer auch nach jahrzehntelangem Zupacken im High-End-Bereich nicht.

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Das verdankt er seiner zweiten Leidenschaft: „Gitarrespielen ist eine sehr effektive Regenerationsmethode", sagt er und fügt an: „Wenn ich nicht klettere, spiele ich auf meiner Gitarre am liebsten Stücke von Johann Sebastian Bach. Meistens drei bis vier Stunden täglich." Der scheinbare Gegensatz zwischen der maximalen Kraft, mit der er sich an die Mikrogriffe seiner Boulderprojekte krallt, und dem gefühlvollen Zupfen, mit dem dieselben Finger Gitarrensaiten zum Schwingen bringen, ist für Ueli leicht auflösbar: „In beiden Fällen geht es darum, einer Komplexität Herr zu werden", sinniert er.

„Bei Bach geht es, genauso wie beim Bouldern, um ein Spiel mit diffizilen Bewegungssequenzen. In beiden Fällen musst du so lange an ihnen feilen, bis alles flüssig ist und wie von selbst geht."

Die Kletterer unterstützen sich gegenseitig.
Foto: Stefan Kürzi
Bouldern ist Teamarbeit: Wer nicht klettert, sichert.

Von überallher kamen sie

Schön langsam machte Uelis einst gut gehüteter Geheimtipp die Runde, und der ohnehin schon dicht gestellte Parkplatz Sustenbrüggli wurde um noch ein paar Autos voller. Neben den Einheimischen, die sich über ein erstklassiges Klettergebiet mit etlichen moderaten Problemen genau vor ihrer Haustür freuten, statteten auch internationale Spitzenboulderer wie der Schweizer Fred Nicole und Klem Loskot aus Österreich dem Sustenpass einen Besuch ab.

Auch das Schweizer Brüderpaar Michi und Jvan Tresch trug dazu bei, dass der Ruf des Sustenpasses als bester Sommerspot der Schweiz immer größere Kreise zog und endlich gar bis nach Amerika reichte, von wo aus ihm Boulder-Koryphäen wie Dave Graham folgten. 

Die Alpenlandschaft der Urner Alpen.
Foto: Stefan Kürzi
Die Urner Alpen geben dem Sustenpass ein besonderes Flair, die Blöcke sind aber nur wenige Gehminuten vom Parkplatz entfernt.

Die Karawane zog weiter

Wegen der hohen Frequenz starker Kletterer waren bald alle Projekte geklettert. Die Entdeckung neuer Sektoren wie von „Talgrund", „Kingsize", „Phase" und „Steingletscher" durch Ueli Gygax ließ die Euphorie der späten 1990er noch einmal aufflammen, doch es wurde am Sustenpass allmählich ruhiger. Heimlich, still und leise macht es sich Martin Keller aus Zürich zur Aufgabe, am „Traumland-Block" die dort bestehenden Linien zu verbinden und so einige ultraschwere Kombinationen zu kreieren.

Ein Boulderer beobachtet das Geschehen.
Foto: Stefan Kürzi
Der Luzerner Ueli Gygax leistete auf dem Sustenpass Pionierarbeit.

Der Gipfel dieser 13-jährigen Obsession ist der „Highlander", mit seiner 8C-Bewertung der schwerste Boulder am Sustenpass. Viele Tickmarks von damals sind heute nur mehr verblichene Striche, und wo sich einst Crashpads stapelten, wächst wieder Gras. Die Zeiten von Glanz und Gloria sind vorüber, die Boulderkarawane ist ins nächste neue Gebiet weitergezogen.

Etwas Besseres kann man sich kaum wünschen, denn an den meisten Tagen hat man die Gneisblöcke oben am Sustenpass ganz für sich allein. So wie damals, als die ersten Boulderer ihre Crashpads hier ausgebreitet haben.

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