Weiße Flecken
Man kann immer noch Erster sein: Mit diesen Herausforderungen werden sich Alpinistinnen und Bergsteiger in den nächsten 100 Jahren beschäftigen.
„Alpinismus beginnt, wo Tourismus aufhört.“ Ein Satz wie in Stein gemeißelt, natürlich von Reinhold Messner. Die alpinistischen Herausforderungen haben sich in den vergangenen 70 Jahren stark verändert. War die Erstbesteigung des Mount Everest 1953 noch ein wahnwitziges Unterfangen, reicht der Tourismus heute bis zum höchsten Punkt der Erde. Das wirft Fragen für die Zukunft des Alpinismus auf. Werden die 8.000er noch eine Rolle spielen, wenn man sogar am Concordiaplatz im Karakorum besten Handy-Empfang hat und, in diesen Monaten, eine zweite touristische Piste zum Gipfel des Cho Oyu gelegt wird?
Massentouristische 8.000er-Besteigungen werden uns wohl auch in Zukunft erhalten bleiben. Doch der klassische Alpinismus spielt sich ja ohnehin schon lange woanders ab und folgt seiner eigenen Ethik. Er setzt Eigenverantwortung und Partnerschaft voraus und erfüllt drei Kriterien, die Messner so definiert: Schwierigkeit. Gefahr. Wildnis. Das bedeutet: keine Aluleitern und Fixseile, kein Base-Camp mit Jacuzzi und 5-Sterne-Koch. Will man den State of the Art des Alpinismus definieren, lohnt sich ein Blick auf die mit dem Piolet d’Or ausgezeichneten Projekte der letzten Jahre. Die Kriterien sind, neben den drei oben genannten, die Ästhetik einer Besteigung und deren Ethik: nicht allein in bergsteigerischer Hinsicht. Wichtig ist der Jury auch die möglichst nachhaltige und naturschonende An- und Abreise sowie die Art, wie man mit den Einheimischen umgeht. Und: Bei den Oscars des Alpinismus geht es nicht um Konkurrenz, sondern um das Feiern besonders gelungener und zukunftsweisender Projekte.
Wie sieht also die Zukunft des Alpinismus aus, wenn die „letzten Herausforderungen“ und „unmöglichen Wände“ quasi im Jahrestakt abgehakt werden? Wir wagen sieben Prognosen.
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Experten sehen die Zukunft des Spitzenalpinismus auf bereits bestiegenen Bergen über 6.000 Metern, jedoch auf neuen, teils spektakulären Routen in steilstem Fels und Eis. Ein Beispiel: 2017 stieg ein französisches Trio im vorbildlichen Alpinstil (nur zwei Stellen wurden mit Fixseilen versichert) auf einer neuen, direkten Linie durch die mehr als 2.000 Meter hohe Südwand des Nuptse, der bereits 56 Jahre zuvor erstbestiegen worden war.
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Ebenso wird in Zukunft von unbekannten Berge die Rede sein. Wir werden uns Namen wie Koyo Zom, Tengkangpoche oder Sani Pakkush merken müssen. Junge Extreme wie Simon Gietl, Martin Sieberer und Simon Messner zieht es bereits heute zu unbestiegenen 6.000ern und 7.000ern in abgelegenen Teilen des Karakorum, im indischen Garhwal, in Nepal oder im tibetischen Transhimalaya. In Südchina gibt es noch Projekte für viele Jahrzehnte, deren Verwirklichung allerdings von Permits und somit von der geopolitischen Stimmung und der Tagesverfassung chinesischer Beamter abhängig sein wird.
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Schon heute tun sich Wissenschaftlerinnen und Alpinisten für Expeditionen zusammen. Etwa für jene des Big-Wall-Experten Mark Synnott zum Plateau eines Tepui-Tafelbergs in Venezuela, bei der eine neue Froschart entdeckt wurde. Ein weiteres Beispiel ist die Bestandsaufnahme des Khumbu-Gletschers durch den Bergsteiger Conrad Anker und den Fotografen Cory Richards für die National Geographic Society. Alpinisten und Alpinistinnen agieren bei solchen Glacier Assessments als Augen der Wissenschaft: Sie sind meist die ersten westlichen Zeugen, die den Klimawandel und seine Auswirkungen auf den Lebensraum des Himalaya und anderer Gebirgszüge aus nächster Nähe mitbekommen. Zu solcher Zusammenarbeit mit der Wissenschaft wird es in Zukunft häufiger kommen.
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Die dramatische Veränderung der Berglandschaft im Gefolge des Klimawandels führt die Pioniere von morgen auf neue Routen an 7.000ern und 8.000ern, die wegen der höheren Temperaturen freigelegt werden. Sogar ein fünfzehnter 8.000er könnte mit dem Abschmelzen der Scharte zwischen dem Broad Peak und seinem Mittelgipfel entstehen. Vertikal-Veteran Kurt Diemberger erwähnte in einem Interview einen nun weitgehend eisfreien und somit entschärften Grat vom Shaksgam Valley zum Gipfel des Gasherbrum I (Hidden Peak). Auch in den Alpen, Rockies und Anden wird sich so manches ändern: Zum einen wird die Einschätzung der Schneeverhältnisse an hohen Bergen nicht gerade vereinfacht. Doch nicht nur das. In den Dolomiten, der Schweiz und in den französischen Alpen führt das Auftauen der Permafrostschicht zu gewaltigen Bergstürzen. Alte Routen werden somit auch in unseren Breitengraden zerstört und neue Aufstiegsmöglichkeiten geschaffen.
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Schon immer haben neue Technologien den Alpinismus vorangetrieben: Kernmantelseile, Jumars, GoreTex, Kevlar. Und natürlich haben auch sie in Zukunft am Berg ein paar Worte mitzureden: Denken wir an komplexe Wettermodelle, Google Earth, FATMAP, warmes und leichtes Kleidungsmaterial, Expeditionsstiefel, hypoxische Zelte zur Höhensimulation und an telemetrisches Gewand, das über den Körperzustand informiert. Trainingsmethoden aus anderen Sportbereichen und ausgeklügelte, hochkalorische Ernährung werden außerdem zu einem noch höheren Konditions- und Fitnesslevel führen.
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Bergsportarten werden sich öfter vermischen – zu Touren mit Paragleiter, Snowboard oder Skiern. Erwähnt seien die Skibergsteiger Cody Townsend, der die 50 klassischen Abfahrten in Nordamerika sammelt, oder Hilaree Nelson und Jim Morrison, die 2018 das Lhotse Couloir mit Skiern abfuhren. Im Spitzenalpinismus wird sich ebenfalls die Kombination unterschiedlicher Geistesschulen und Elemente verfestigen: Eisklettern, Trad- und Mixed-Climbing, Dry-tooling, komplexes Felsklettern in hohen Schwierigkeitsgraden und in großer Höhe sowie schneller und leichter Alpinstil in Kombination mit dem russisch-polnischen Kapselstil.
Die vielleicht edelste und absolute Form des Alpinismus bleibt ganz wenigen Meistern vorbehalten: Solo-Mixed-Klettern an den Weltbergen.
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Ein Antrieb des Bergsteigens war schon immer die Ästhetik, der im Nachstieg die Ethik folgt. Ihr Anspruch: der Schönheit des Berges durch die Schönheit des Stils gerecht zu werden. Free, clean und by fair means werden daher zentrale Begriffe bleiben und Entdeckergeist der wichtigste Motivator. Nur zur militärischen Großexpedition dürften wir nicht so bald zurückkehren. Weiterhin gilt die Philosophie des von Preuss, Buhl, Bonatti und Messner geprägten Verzichtsalpinismus – aus Gründen der Effizienz, aber auch der Eleganz.
Alpinismus ist weit mehr als eine „Sportart“ und hat eine ganze Menge mit Kunst gemeinsam. Eine visionäre Linie durch eine Wand hat genau so viel mit Muskeln und Mut zu tun wie mit Fantasie und Seele. Wojciech Kurtyka, dem 1985 gemeinsam mit Robert Schauer die Durchsteigung der Shining Wall am Gasherbrum IV gelang, sagte dazu einmal: „Manche nennen unsere Besteigung die ultimative Bergfahrt des 20. Jahrhunderts. Doch welchen Sinn hätte es, ein Gedicht zum ultimativen Gedicht des Jahrhunderts zu küren?“
Ganz in diesem Sinn beschreibt der britische Bergsteiger und Autor Tom Livingstone seine Vision von der Zukunft des Alpinismus als zutiefst persönlichen Moment: „Die Sonne steht hoch im tiefblauen Himmel, als mein Partner und ich die 7.000er-Grenze übersteigen, in einer Wand, so steil, dass der Schnee darin kaum Halt findet. Die Schlüsselstellen, die vom Tal aus unmöglich ausgesehen haben, sind gerade noch zu bewältigen. Der Spindrift, den wir mit unseren Eisgeräten freisetzen, schwebt glitzernd bis zum Gletscher tausend Meter unter uns. Rasch und schweigend arbeiten wir uns höher. Unsere Anwesenheit bleibt unbemerkt.“
Alle Inhalte des Dossiers:
Essay: Wie wir wandern werden.
Interview: Die Hütte der Zukunft.
Fotogalerie: Diese Gletscher werden in 100 Jahren verschwunden sein.
Weiße Flecken: Diese Herausforderungen warten auf die Alpinisten der Zukunft.
Interview: Wie wir die Natur in Zukunft schützen können.
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