ESSAY

Begegnung mit dem Glücklichsein

Von der Tücke in den Bergen tatsächlich die Freiheit zu finden.

Text: Klaus Haselböck, Illustration: Romina Birzer

Erster Akt: Steiler Fels

Routen, die durch große Wände führen, sind der Inbegriff alpiner Abenteuer. Und wo Abenteuer stattfinden, kann Freiheit nicht weit sein. Dies passt doch perfekt zur germanischen Wurzel des Wortes: „frī-halsa“ ist nämlich jemand, dem sein Hals selbst gehört.

An der „Wienerführe“ am Festkogel im Gesäuse ist die Absicherung zwischen den gebohrten Ständen karg und der Anspruch der Tour mit dem sechsten Grad hoch. Hier haben wir es in der Hand – und am Fuß – unser Leben zu verwalten. Anders als in der Stadt, wo immer irgendjemand hilft, immer jemand da ist, weist das Sicherheitsnetz im Gesäuse erhebliche Lücken auf: Geht mir die Kraft aus, kann ich den nächsten Griff nicht halten; oder steige ich den nächsten Tritt nicht präzise an, werde ich fallen. Fallen heißt nicht automatisch sterben, ich bin ja von meinem Partner gesichert. Aber ein Sturz kann Schmerzen oder Verletzungen mit sich bringen. Das Kleingedruckte solcher Heldengeschichten hat man schon beim Einstieg mitunterschrieben. Schließlich war es unsere Entscheidung, unsere Freiheit, hierher zu kommen. Es muss ja nicht das Gesäuse sein, die „Universität des Bergsteigens“.

Als Novize merke ich schon in der ersten Seillänge, wie die Angst mitklettert: Ich will nicht stürzen. In dem archaischen Raum, in dem ich mich hier bewege, hat die Wand das Sagen. Über ihre Felsstrukturen definiert sie, was zu tun ist, ich führe es bestmöglich aus. Ist mir damit eine Last abgenommen, fühle ich mich freier, weil ich weniger Sicherheit habe und das Hinauf die einzige Option ist? Nicht unbedingt. Eher fühlt es sich nach einem lustvollen Überlebenskampf an.

Unter dem Credo „Das Können ist des Dürfens Maß“ hat Freikletter-Pionier Paul Preuss vor über hundert Jahren die Abkehr von Hilfsmitteln wie Leitern und Seilen als Aufstiegshilfen propagiert. Er „befreite“ das Klettern, indem er es auf die Essenz, also unsere eigenen Möglichkeiten, reduzierte. Die Empfehlung von Preuss war allerdings auch, einer Tour „nicht gewachsen, sondern überlegen“ zu sein. Spätestens beim Ausstieg der Tour ist mir klar: Ein größeres Können bringt ein Plus an Freiheit.

 

Zweiter Akt: In der Spur

An den Bergen schätzen wir die Handlungsfreiheit. Wir können entscheiden, was wir nicht tun – scheinbar macht uns hier niemand Vorschriften. Haben wir endlich die Gebots- und Verbotsschilder der Zivilisation hinter uns gelassen, tragen wir selbst die Konsequenzen und spüren die Auswirkungen. Wenn wir beim Aufstieg zur Wiesbadener Hütte in der Silvretta mit unseren Skiern die Spur verlassen, uns unseren eigenen Weg im „freien Gelände“ suchen und uns dabei verlaufen, haben wir eine harte Nacht in den Bergen vor uns. Selbst schuld, oder?

Zweifelsohne. Wahr ist aber auch: Ich bin nicht allein in der Welt, nicht einmal hier oben im Gebirge. Und damit ist nicht der Skitouren-Boom gemeint: Wir leben – da wie dort – in Beziehungen, übernehmen Verantwortung für uns selbst und für andere. Bin ich am Piz Buin unachtsam oder übermütig und stürze am Ochsentaler Gletscher in eine Spalte, dann betrifft das auch meinen Seilpartner. In der Folge bringe ich auch die Teams der Bergrettung in Gefahr und füge meiner Familie wahrscheinlich emotionales Leid zu.

Das Mill-Limit wurde nach dem britischen Philosophen John Stuart Mill benannt. Es gilt als Grundlage des Liberalismus: Demnach wäre die Freiheit dort zu beschränken, wo eine Schädigung Unbeteiligter erfolgt. Also auch am Berg? Ein ganz heißes Eisen: Wie weit geht unsere moralische und juristische Verantwortung, wenn wir Grenzen überschreiten und dabei andere oder auch uns gefährden? Wie frei sollen (und wollen) wir also in den Bergen tatsächlich sein?

Von den alpinen Vereinen wie auch wortstarken Bergsteigerinnen und Bergsteigern wird diese Bastion vehement verteidigt. Zu Recht: Geht es doch darum, diesen besonderen Erfahrungsraum, der so anders ist als die durchregulierte Welt, in einer möglichst unregulierten Form zu erhalten. Nicht beim Verbieten möchte man daher ansetzen, sondern bei der Bewusstseinsbildung und beim Können, also der Ausbildung.

Deshalb werden etwa Skitouren außerhalb der präparierten Pisten genauso wie alpine Kletterrouten kaum ausgeschildert. Jeder, der sich darauf einlässt, sollte wissen, was er tut. Ein Reflex, der uns in der Zivilisation weitgehend abgewöhnt wurde, wird hier in die Pflicht genommen: Wichtiger als das „Frei wovon?“, wie Friedrich Nietzsche seinen Zarathustra sagen lässt, ist das „Frei wozu?“. Und das geht sich ohne Verantwortung nicht aus – weder für uns selbst noch für andere.

Dritter Akt: Dünne Luft

Bringt ein Mehr an Höhe ein Mehr an Freiheit? Ist Freiheit also direkt proportional zum sinkenden Sauerstoff-Partialdruck? Zumindest berichten versierte Höhenbergsteiger wie Ralf Dujmovits von geradezu rauschartigen Zuständen, wenn sie auf Gipfeln über der Achttausender-Marke stehen, und von Glücksgefühlen, die sie fast zur nächsten Bergtour zwingen.
Das Dach der Welt muss es nicht gleich sein, das von Afrika tut es in meinem Fall auch. Selbstbestimmtheit, mithin die Maßeinheit der Freiheit, muss man für eine Tour auf den Kilimandscharo – genauso wenig wie bei einer gebuchten Everest-Besteigung – nicht einpacken: Entscheiden kann man sich für eine Route, dann haben die Guides das Sagen. Der Weg zum Uhuru Peak, dem hohen 5.895-Meter-Gipfel, verläuft auf klar definierten Wegen, allein ist man dort nie, und Entscheidungen trifft man keinesfalls selbst. Höhenkrank kann man trotzdem werden, und griffig ist der Schlussanstieg, wenn es nächtens die letzten 1.000 Höhenmeter bis zum Kraterrand geht.

Ausgerechnet dort weinten wir Tränen, als über den Wolken die Sonne aufging. Obwohl wir auf dem prominenten Berg den Guides in der Dunkelheit in dicken Daunenjacken und mit einem kleinen Tagesrucksack nachgestolpert waren. Großes Bergsteigen sieht eigentlich anders aus.

„Zu tun, was du magst, ist Freiheit. Zu mögen, was du tust, ist Glück.“ Dass Freiheit und Glück eng verwoben sind und dass das eine das andere bedingt, ist nichts Neues. Die Tränen des Glücks kamen am „Kili“ trotzdem überraschend.

Erklären lassen sie sich über die stoische Philosophie aus dem antiken Griechenland, eine Denkrichtung, die Emotionen eigentlich keinesfalls forciert: Freiheit ist für Stoiker nichts abstrakt Grenzenloses, sondern etwas sehr Individuelles. Wir kommen in ihren Genuss, wenn wir uns zu beherrschen wissen und das Mögliche ausschöpfen: Dort oben am Kraterrand zu stehen war unser Traum. Wir wollten weder den K2 im Winter besteigen noch eine Rotpunkt-Begehung des Nameless Tower schaffen. Das sind die Freiheiten von Extrembergsteigern wie Nims Purja oder den Huberbuam. Die erleben dort ihre Freiheit. Unser Ziel war der Kili und als wir es dort hinaufgeschafft hatten, brannten die Endorphine in uns ein Feuerwerk ab. Ja, wir waren dort nur Touristen, aber das nahm uns nichts von unserer Freiheit. Ganz im Gegenteil: Wir waren dort genau richtig.

Epilog

Menschen brauchen Berge. Es sind dies Orte, wo Freiheit vom abstrakten Begriff zur gelebten Erfahrung wird. Dort oben können wir – quasi unter Laborbedingungen – verstehen, dass es auch in einem archaischen Raum klare Regeln gibt: Wollen wir gesund wieder zurückkommen, dann passen wir unser Ziel lieber wir dem eigenen Können an. Außerdem müssen wir bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Für uns selbst genauso wie für andere. Sind wir dazu bereit, dann öffnet sich mit den Bergen für uns ein Raum, in dem Freiheit zu einer tiefen Begegnung mit dem Glücklichsein wird.

 

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