Interview  

Platz da! 

Österreich, Deutschland und die Schweiz wollen im Rahmen der High Ambition Coalition 30 Prozent ihrer Landesfläche schützen. Umwelthistorikerin Christina Pichler-Koban erklärt, wieso solche Zahlen mit Vorsicht zu genießen sind und warum es auch im Naturschutz Modeerscheinungen gibt.

Interview: Mara Simperler, Illustrationen: Michael Paukner

Bergwelten: Wenn man sich ansieht, welche Schutzgebiete es in Österreich gibt, kann man schon mal den Überblick verlieren: Es gibt Nationalparks, Europaschutzgebiete, Wildnisgebiete, Landschaftsschutzgebiete, Naturparks, Biosphärenparks und noch mehr. Wieso ist Naturschutz so kompliziert? 

Dr. Christina Pichler-Koban: Daran ist die Geschichte schuld. All diese Kategorien sind zu unterschiedlichen Zeiten entstanden. Seine Wurzeln hat der Naturschutz im 19. Jahrhundert. Ein Meilenstein war die Schaffung von flächigen Schutzgebieten wie den Nationalparks in den USA. Im Jahr 1872 wurde der erste, Yellowstone, gegründet. Bei uns hat es zunächst Naturdenkmäler gegeben, damit sollten besondere Erscheinungen in der Landschaft, etwa Bäume oder Felsen geschützt werden. Die ersten Nationalparks sind in Europa 1909 in Schweden entstanden, im alpinen Raum in der Schweiz, in Österreich und Deutschland erst viel später, obgleich die Bemühungen um Nationalparks hier ebenfalls bis in die 1910er-Jahre zurückreichen. Und ich würde sagen, es gibt auch im Naturschutz Modeerscheinungen: Je nachdem, was gerade geschützt werden sollte und was als Bedrohung empfunden wurde, wurden unterschiedliche Schutzgebietskategorien entwickelt. 

Aber warum hält man an diesem komplizierten Regulatorium fest?  

Wie in jedem gesellschaftlichen Bereich muss man auch bei Schutzgebieten Widersprüche verhandeln und Kompromisse finden. Nehmen wir als Beispiel den Tourismus: Der tritt einmal als Verbündeter und einmal als Gegner des Naturschutzes auf. Wenn es darum geht, dass ein schöner Wasserfall für Wasserkraft genutzt wird, will der Tourismus diese Attraktion erhalten und kooperiert mit dem Naturschutz. Wenn es um die Erweiterung von Skigebieten geht, werden die beiden zu Gegnern. Ähnlich verhält es sich mit der Landwirtschaft: Landwirtschaft und strenger Naturschutz schließen sich aus, andererseits ist in bestimmten Schutzkategorien traditionelle Landnutzung durchaus erwünscht. Das ist ein Grund für diese vielen verschiedenen Typen von Schutzgebieten. 

Wie ein Fleckenteppich sehen die Schutzgebiete im Alpenraum aus. | Karte: Alparc

Österreich ist im Rahmen der Klimakonferenz COP26 der High Ambition Coalition beigetreten. Auch die Schweiz und Deutschland sind Mitglieder der Koalition. Das erklärte Ziel der HAC ist es, bis 2030 dreißig Prozent der Erd- und Meeresfläche unter Schutz zu stellen. Welchen Beitrag leisten die deutschsprachigen Alpenländer dazu?  

Laut der World Database on Protected Areas, stehen in Deutschland 37,45 Prozent der Landesfläche unter Schutz, in der Schweiz 12,13 Prozent, in Österreich 29,28 Prozent, das heißt, dieses Ziel wäre größtenteils schon erreicht. Die Zahlen erscheinen mir zumindest für Österreich als zu optimistisch. Da sollte man immer genauer hinschauen: Was wird da wirklich dazugezählt? Unter Umständen überlappen sich die Flächen, und in den meisten Fällen ist der Schutz nicht besonders streng.

Das heißt, wir stehen zwar am Papier gut da, aber in der Realität nicht? 

Ja, und sehr große Teile der Flächen, die unter Schutz stehen, sind Flächen, die ohnehin schwer nutzbar sind, die sozusagen für den Naturschutz übrig bleiben. Das Potenzial wäre durchaus da, dass man tatsächlich 30 Prozent des Landes unter Schutz stellen kann. Aber ich zweifle daran, dass sich jemand traut, das auch durchzusetzen. 

Es gibt die „Halbe Erde“-Bewegung, deren Ziel noch ambitionierter ist als die der HAC: Es soll nämlich die Hälfte der Natur auf unserer Welt geschützt werden. Sehen Sie das als machbar an? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen? 

Eine Frage, die sich mir dazu aufdrängt, ist, welche Hälfte wird dann geschützt? Es ist leicht, die andere Hälfte zu schützen und nicht meine eigene. Selbst die Hälfte der Erde zu schützen wäre machbar, aber es müsste jeder in seinem eigenen Dorf und mit seinem eigenen Grundstück anfangen. Man muss bei solchen Visionen darauf achten, dass nicht einfach all unsere Probleme in den globalen Süden ausgelagert werden. 

Der Anteil der Nationalparks an Österreichs Landesfläche beträgt derzeit gerade einmal drei Prozent, in der Schweiz und Deutschland gelten jeweils rund vier Prozent als „streng geschützt“. Ist es nicht an der Zeit, diese Flächen auszuweiten?  

Das wäre wünschenswert. In den Zielen der Europäischen Union sind zehn Prozent streng geschützte Flächen festgeschrieben. Zukünftige strenge Schutzgebiete werden eher Wildnisgebiete als Nationalparks sein. Derzeit beschäftigt sich eine österreichische Studie mit der Frage, wo Potenzial dafür wäre. Dennoch wird das nur schwer umsetzbar sein. Große Schwierigkeiten bereiten dabei der Föderalismus, der für jede Frage unterschiedlichste Zuständigkeiten vorsieht, ebenso wie Eigentumsfragen. Oft haben Schutzgebiete sehr viele verschiedene Eigentümer, mit denen jedes Detail individuell verhandelt werden muss. Eigentum hat bei uns einen sehr hohen Stellenwert. So kann es sein, dass eine Fläche, die eigentlich großes Potenzial hätte, etwa ein Laubwaldstandort, so intensiv bewirtschaftet wird, dass der Beitrag zum Naturschutz nicht mehr relevant ist. 

Gut, aber könnte man das nicht ändern? 

Es kommt tatsächlich vereinzelt vor, dass ein Grundeigentümer aus eigenem Antrieb sagt, er möchte gerne seinen Besitz unter strengen Schutz stellen. Aber da ist rechtlich vieles nicht geklärt – was passiert etwa in einem so geschützten Wald, wenn Borkenkäferbefall auftritt? Wer haftet dann für Schäden?  

„Moderne Schutzgebietskonzepte versuchen nicht, den Menschen vom Naturschutz auszuklammern.“

Auf der Suche nach der Wildnis im Nationalpark Hohe Tauern. Foto: Ramona Waldner

Wie können wir dann in einem Land, in dem die Bevölkerung wachsen wird, gleichzeitig der Natur mehr Platz geben?  

Die Bevölkerung sollte nicht weiter in die Fläche wachsen. Ich wohne in Kärnten, da wächst zwischen Villach und Klagenfurt alles zusammen. Das ist nicht wünschenswert: Es sollte nicht alles mit Einfamilienhäusern zugebaut werden. Man muss die Menschen nicht aus der Natur halten, aber sie müssen sich nicht überall ansiedeln. Und grundsätzlich gibt es bei uns genügend Potenzial, zusätzliche Natur unter Schutz zu stellen oder strengere Schutzgebiete auszuweisen.

Das E.C.O. Institut für Ökologie, bei dem Sie arbeiten, entwickelt ja unter anderem Konzepte für Schutzgebiete. Wie läuft es denn ab, wenn ein neues Schutzgebiet etabliert wird?  

Es kommt darauf an, von welcher Kategorie wir sprechen. In den fast zwei Jahrzehnten meiner Tätigkeit für E.C.O., handelte es sich meistens um Naturparks oder Biosphärenparks. Die unterscheiden sich stark von Nationalparks, weil es primär nicht nur um strengen Naturschutz geht, sondern wirtschaftliche und soziale Aspekte eine ganz wesentliche Rolle spielen. Die Initiative kommt aus den jeweiligen Regionen. Zunächst werden Machbarkeitsstudien durchgeführt: Man sieht sich an, welche Schutzgebietskategorie passend wäre, was wo genau geschützt werden soll. Dann folgt ein langwieriger Planungsprozess. Bürger und Interessenvertreterinnen werden in alle Schritte einbezogen. Hat man sich schließlich geeinigt, werden die Beschlüsse in Verordnungen gegossen und das Gebiet eingerichtet.    

Wie radikal kann Umweltschutz sein? Für Staudammprojekte wurden einst Dörfer abgesiedelt, wo heute etwa der Sihlsee in der Schweiz ist, waren früher Bauernhöfe. Wäre so etwas auch für die Erweiterung von Schutzgebieten denkbar?   

Nein, ich kann mir das in unserem Kulturkreis nicht vorstellen. Das ist politisch nicht durchsetzbar, und ich halte es auch nicht für erstrebenswert. So ein Vorgehen war in der älteren Geschichte des Naturschutzes durchaus gang und gäbe. Beispielsweise ignorierten die Gründer der ersten Nationalparks in den USA völlig, dass diese im Siedlungsgebiet der amerikanischen Ureinwohner lagen, die mit den Parks und den damit verbundenen Einschränkungen ihre Lebensgrundlagen verloren haben. Modernere Schutzgebietskonzepte wie Biosphärenparks versuchen nicht, den Menschen vom Naturschutz auszuklammern.    

Wissen

So sieht die Verteilung der unterschiedlichen Schutzgebiete in Österreich aus: 0,1 Prozent der Landesfläche sind etwa als Wildnisgebiet geschützt, 15,6 Prozent als Europaschutzgebiete. Die unterschiedlichen Schutzgebiete überlappen sich aber teilweise.

Welche Entwicklung werden wir hier in den nächsten 100 Jahren sehen?

Ich kann hier keine Prognose abgeben, aber eine Vision teilen, die auf einem Gedanken des Umweltanthropologen Robert Fletcher beruht. Er bezieht sich auch auf die „Halbe Erde“-Bewegung, grenzt seine Idee aber davon ab und entwirft die „Whole Earth Conservation“. Die läuft darauf hinaus, dass man nicht mehr versucht, die Natur in kleinen, abgegrenzten Flecken zu schützen, sondern darangeht, alle vom Menschen geschaffenen Strukturen einzubeziehen und positiv zu nutzen. Man müsste also die ganze Erde schützen und vorsichtiger mit ihr umgehen.

Das hieße natürlich, dass wir unsere komplette Lebensweise umstellen müssten.   

Ja, erfreulicherweise versucht ein großer Teil der jungen Generation schon jetzt, sehr bewusst zu leben. Ich glaube, wir haben möglicherweise gar keine andere Wahl, als es so zu machen, wenn wir längerfristig auf diesem Planeten zu Gast sein wollen.   

Wie geht man im Umweltschutz mit widersprüchlichen Zielen um? Zum einen brauchen wir nachhaltige Energie, wie Wind- und Wasserkraft, um CO2 einzusparen, zum anderen stellen sich gerade Umweltschützerinnen oft gegen neue Projekte, weil dadurch Naturlandschaften zerstört werden.   

Es gibt kein Patentrezept, das ist ein ständiges Neuaushandeln. Über die großen Ziele ist man sich einig: Es braucht nachhaltige Energien, um CO2 einzusparen. Und wir müssen den Biodiversitätsverlust anhalten. Wenn es dann um den konkreten Einzelfall geht, etwa, wo ich eine Windanlage aufstelle, wird es schwierig. Die Interessen sind auszuhandeln und die Verhältnismäßigkeiten auszuloten. Es ist möglich, dass eine Windkraftanlage an manchen Plätzen mehr für Klimaschutz und Natur bringt, als sie die Natur beeinträchtigt.   

Ich merke: Es gibt keine perfekte Lösung. Was sollten wir also in einem imperfekten System am dringendsten schützen?  

Es muss trotz allem Taburäume geben, die nicht verhandelbar sind. Ich nehme wahr, dass derzeit alles wieder verhandelbar wird. Etwa, ob man in einem Nationalpark Wölfe abschießen darf. Das widerspricht dem Ziel von Nationalparks, wilde Natur zu schützen. 

Ein Blick in die Zukunft: Sehen Sie den nächsten 100 Jahren eher angst- oder hoffnungsvoll entgegen?   

Ich glaube grundsätzlich, dass wir Menschen lernfähig sind. Und wenn ich keine Hoffnung hätte, könnte ich gleich aufhören, mich für irgendetwas einzusetzen. Aber ich weiß auch nicht... Letztendlich würde es der Planet auch ohne uns schaffen und vielleicht auch besser haben. Aber irgendwie wäre es schon schade um uns.

Foto: Helge Bauer

Zur Person:

Dr. Christina Pichler-Koban hat erst an der Universität für Bodenkultur in Wien Landschaftsplanung studiert und nach einigen Praxisjahren über Naturschutzgeschichte dissertiert. Heute arbeitet sie in Klagenfurt im Unternehmen E.C.O. Institut für Ökologie an der Schnittstelle zwischen Forschung und Praxis.

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