Essay

Wie wir wandern werden

Ein Tag in den Bergen in 100 Jahren:
Ein Gedankenspiel.

Text: Mara Simperler, Illustrationen: Michael Paukner

Guten Morgen im Jahr 2122. Es ist ein frühlingshafter Tag, ein guter Tag, um in die Berge zu gehen. Zumal du einen der begehrten Pässe für die Kernzone des Großen Alpen Nationalparks ergattert hast, mit dem du heute in einer Berglandschaft wandern gehen darfst, die für Menschen schon lange nicht mehr frei zugänglich ist. Nachdem das Artensterben Mitte des letzten Jahrhunderts auf einem Höhepunkt war, hat die Regierung beschlossen, 30 Prozent der Landesfläche unter strengen Schutz zu stellen. Seitdem gehören viele Bergregionen wieder ausschließlich den Tieren. Der Zugang zu diesen geschützten Wildnisgebieten ist streng reglementiert, wer hier wandern gehen möchte, muss sich um ein Ticket bewerben. Und du hattest Glück.

Du schlüpfst in deine Wanderkleidung, schnürst die Schuhe und checkst noch einmal auf der Wander-App deine Route. Weil der Fels infolge der Erderwärmung instabiler geworden ist, gibt es heutzutage im Sommer permanent aktualisierte Felssturz-Bulletins, so wie es das früher schon für Lawinenprognosen gab. Alles sieht gut aus, der Tour steht nichts im Weg. Du nimmst den Zug, für das letzte Stück zum Ausgangspunkt orderst du dir per App eines der selbstfahrenden E-Taxis, die den Individualverkehr fast völlig verdrängt haben. Kaum jemand möchte noch ein Auto besitzen, wenn man für wenig Geld an jeden beliebigen Ort kutschiert werden kann.

Der Weg führt dich lange durch den Wald. Durch die höheren Temperaturen hat sich die Baumgrenze nach oben verschoben, außerdem wurden die Almen in der Kernzone des Nationalparks aufgegeben. Seither machen sich die Bäume breit. Das hat den angenehmen Nebeneffekt, dass man länger im Kühlen geht.

Der Zugang zu diesen geschützten Wildnisgebieten ist streng reglementiert, wer hier wandern gehen möchte, muss sich um ein Ticket bewerben. Und du hattest Glück.

Nach etwa drei Stunden erreichst du die Berghütte, bei der du heute einkehren willst. Alle Hütten im Großen Alpen Nationalpark sind gleichzeitig auch Forschungsstationen. Hier wird beobachtet, wie sich die Natur entwickelt, seit der Mensch sich weitestgehend zurückgezogen hat. Du nimmst an einem der Holztische auf der sonnigen Terrasse Platz, bestellst ein kühles Getränk und einen Eintopf. Was vor 100 Jahren noch die absolute Ausnahme war, ist heute Standard: Die meisten Hütten in den Bergen bieten nur noch vegetarische oder vegane Kost an, nur einige wenige, die außerhalb der Nationalparks liegen und eigenes Vieh halten, servieren noch Fleischgerichte. Außerdem wurden in den vergangenen 50 Jahren alle Hütten so umgebaut, dass sie völlig autark funktionieren – der Strom kommt aus Solar-, Wind- oder Wasserkraft, das Abwasser wird vor Ort wieder aufbereitet.   

Natürlich waren nicht alle glücklich mit den Veränderungen in den Bergen. Als die ersten strengen Schutzzonen errichtet wurden, gab es Proteste, die Menschen wollten nicht akzeptieren, dass es von nun an Bereiche geben sollte, die der „Krone der Schöpfung” verwehrt bleiben sollten. Als der Schneesperling ausstarb, trauerten nur ein paar Biologen. Doch irgendwann konnten selbst die Skeptiker nicht mehr ignorieren, dass es nur noch vereinzelte Murmeltier-Populationen gab, und als dann der Steinadler für immer aus den Bergen verschwand – ausgerechnet der Adler, dieses edle Wappentier – hatten die Naturschützer einen Großteil der Bevölkerung auf ihrer Seite. 

Mittlerweile gibt es Versuche, mithilfe von eingelagerten DNA-Proben ausgestorbene Tier- und Pflanzenarten wiederzubeleben. Feldversuche dazu finden auch im Umfeld der Hütte statt, von der du dich nun langsam weiterbewegst, zum letzten Aussichtspunkt, bevor sich der Weg in die Wildnis verläuft. Du blickst über wogende Wälder, graue Felsen und einen strahlend blauen Himmel. Und denkst, dass wir vielleicht doch manches richtig gemacht haben, auch wenn es lange gedauert hat. Und dann machst du dich auf den Weg nach Hause – zurück in die Zukunft.  

Ob ein Tag in den Bergen in 100 Jahren wirklich so aussieht? Wir wissen es nicht. Aber wir widmen uns in diesem Dossier der Zukunft – auf Basis dessen, was die Wissenschaft heute schon über sie weiß.   

 

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