Ana Zirner im Kaukasus: Rauhes Racha – Im Wilden Westen Georgiens
Verwildert, zerfallen und wunderschön: Ana Zirner ist auf ihrer Kaukasus-Durchquerung in der Provinz Racha im Westen Georgiens angelangt. Dort erlebt sie georgische Gastfreundschaft, großes Kino auf einfachen Bettlaken und den ersten Schnee des Jahres.
Westlich von Südossetien, dem umkämpften Gebiet in der Mitte des großen Kaukasus, durch das eine Durchreise unmöglich ist, geht es für mich weiter. Hier liegt Racha. Und Racha ist genau so, wie es klingt: Unwegsam, „zach“ – wie wir in Bayern sagen würden. Verwildert, zerfallen, wunderschön und kaum erschlossen. Nur bei genauer Betrachtung der verlassen wirkenden Bergdörfer entdeckt man zwischen den Ruinen dann doch irgendwo eine bunte Wäscheleine, einen improvisierten Wasserhahn, ein paar schlampige Hühner oder eine magere Kuh, die an einen üppigen Apfelbaum gebunden ist. Und Hunde. Immer und überall Hunde.
Inmitten dieser morbiden Idylle – so gesehen in dem Dörfchen Zeshkho – taucht auf einmal ein altes kleines Männlein auf und läuft freudig lächelnd auf uns zu. Das verblichene Karohemd hat er in die Unterhose gesteckt, die ihm fast bis unter die Achseln reicht, die zu weite Hose wird von dem Ledergürtel mit Mühe und Not auf den knochigen Hüften gehalten. Aber all das wird überstrahlt von diesem Lächeln und den euphorischen Gesten und schon beginnt er zu reden.
Und er hört lange nicht auf. Er zeigt in alle Richtungen, in die hohen Berge mit den nahen Gletschern im Norden, in die Weite des Tals im Osten, auf die paar alten und halb zerfallenen, aber stattlich großen Gebäude hinter ihm. Er erklärt uns ganz offensichtlich die Umgebung, aber eben alles auf Georgisch. Wir nicken, sagen „Yes“ und „Cho“ (georgisch für „Ja“) und „Madloba“ (georgisch für „Danke“). Vitali macht es sichtlich Freude, sich als Fremdenführer zu engagieren und dass wir ihn nicht verstehen, ist dabei wirklich nicht so wichtig.
Zerfallende Mauern, überwindbare Sprachbarrieren
Hinter ihm taucht irgendwann im Garten ein jüngerer Mann um die sechzig auf. Er kommt auch auf uns zu und redet auf Vitali ein. Er sagt ihm wohl „die verstehen doch kein Georgisch!“, aber das hält Vitali nicht auf. In einer Redepause verstehen wir aus Gesten und dem Wort „Meningitis“, des jüngeren Mannes, dass Vitali wohl als Kind diese Gehirnhautentzündung gehabt hat. „Emsari“ sagt er dann, freundlich lächelnd, und zeigt auf sich. „Ana“ sage ich, „Martin“ sagt Martin. „Pa Ruski?“ fragt Emsari und wieder müssen wir verneinen. Ich ärgere mich zum x-ten Mal, dass ich kein Russisch gelernt habe. Mit ein paar wenigen englischen und deutschen Worten und vor allem mit vielen herzlichen Gesten lädt uns Emsari ein, bei ihm zu übernachten. Das auszuschlagen wäre nicht nur unhöflich, es hätte uns auch einen der schönsten und spannendsten Abende in dieser Region gekostet.
Das „wir“ ist jetzt wieder ein anderes. Nun sind wir endlich als kleine werdende Familie unterwegs, denn mein Freund Martin ist ab jetzt mit unserem ungeborenen Kind und mir unterwegs. Er konnte sich einen Monat freinehmen und so erkunden wir den wilden Westen des georgischen Kaukasus nun gemeinsam.
Von Racha aus geht es weiter nach Ushguli in Swanetien, von dort aus entlang des viel begangenen und berühmten Trekkingwegs in die bergige „Hauptstadt“ Mestia, und schließlich so weit wie möglich an die Grenze von Abchasien heran. Abchasien ist die andere Konfliktregion auf georgischem Boden, die nach Westen hin zum Schwarzen Meer hinabreicht und in die wir – derzeit – auch nicht einreisen können. Wir werden stattdessen durch die kolchische Tiefebene die Hafenstadt Poti erreichen und von dort mit dem Schiff unsere Heimreise antreten.
Aber Moment, das ist alles gerade noch ganz weit weg. Denn erstmal sind wir hier in Zeskho und unser Gastgeber Emsari tischt gerade auf. Köstliches, selbst gemachtes Joghurt, das im Mund kriselt und auf das er ebenso stolz ist wie auf seinen weißen Hartkäse. Auch das Brot ist selbst gemacht und neben den Tomaten und Gurken bringt er irgendwann auch noch einen Teller mit fettigen Fleischstückchen, die wir nicht ganz zuordnen können, aber natürlich trotzdem probieren. „Gemrieli“ – lecker.
Aber ganz wichtig sind natürlich Wein und Chacha-Schnaps, beides wird aus den üblichen 10-Liter-Plastikkanistern in Becher geschüttet und wie immer sorgt mein Argument „me war Orsoli“ („Ich bin zweiseelig“, was auf Georgisch „schwanger“ bedeutet) für ganz große und herzliche Freude und Glückwünsche. Als ich dann deutlich mache, dass ich deswegen nichts trinken will, kommen auch von Emsari wieder die typischen Gesten. „No, drink, goooood, all natural“ und er zeigt auf meinen Bauch und macht dann Gesten, als würde nach dem Genuss von seinem Schnaps ein wahrer Hulk aus meinem Kind… Ich kenne das schon. Sonst habe ich auch oft den durchaus ernst gemeinten Satz gehört „Drink, drink – then it will be a boy!“ (was im ländlichen Georgien nach wie vor von vielen als der größere Segen angesehen wird…). Selbstverständlich trinke ich nicht und ebenso selbstverständlich wird das dann auch von Emsari akzeptiert. Dafür muss Martin eben umso mehr trinken und ich erhebe einfach immer wieder mein weiterhin volles Glas. Denn wir müssen auf alles trinken. Auf Georgien, die Berge, die Freundschaft zwischen Deutschland und Georgien, unsere neue Freundschaft und natürlich immer wieder auf unser ungeborenes Kind.
Georgische Gastfreundschaft
Zwischendrin erfahren wir, trotz mangelnder Sprachkenntnisse unsererseits, eine ganze Menge über Emsaris bewegtes Leben. Wir erfahren beispielsweise, dass er in seiner Jugend auch Bergsteiger war und damals unter anderem nicht nur die Gipfel von Tetnuldi und Ushba, sondern auch den sehr anspruchsvollen Shkhara (höchster Berg Georgiens) bestiegen hat. Emsari ist unglaublich geschickt darin, sich trotz der Sprachbarrieren auszudrücken und wir nutzen irgendwann auch Bleistift und Papier, um zeichnend unser Gespräch zu erweitern. Als Emsari uns schließlich einlädt, zu seinem 60. Geburtstag Anfang Oktober zu kommen, finde ich es wirklich ein bisschen schade, dass wir nicht kommen können.
Beim Abschied am nächsten Tag wünscht sich Emsari, dass wir ihn irgendwann zusammen mit unserem Kind wieder besuchen kommen. Als unsere Blicke noch einmal über die fantastische vergletscherte Bergkulisse schweifen, die sich direkt hinter Zeskho hoch erhebt und in der sich unzählige kaum begangene und vermutlich wirklich großartige Touren erahnen lassen, habe ich innerlich schon eingewilligt.
Am Nachmittag erreichen wir Ushguli und damit einen Höhepunkt meiner Kaukasusdurchquerung. Und das nicht nur, weil es bis vor Kurzem mit seiner Lage auf 2.200 Metern das höchste dauerhaft bewohnte Dorf Europas war. Diesen wirksamen Titel musste Ushguli 2014 an das tuschetische Dorf Bochorna abgeben, in dem genau ein Mann das ganze Jahr über lebt. In Ushguli allerdings leben auch im Winter noch an die siebzig Familien, etwa 200 Menschen, es gibt eine Schule und ein reges soziales Leben. Heute ist hier mit Ausnahme von zwei Häusern in jedem Gebäude ein Gästehaus untergebracht. Zu Nicht-Corona-Zeiten boomt der Tourismus hier, oder naja – eben was man in kaukasischen Tourismuszahlen so „Boom“ nennen kann. Wir haben Glück und können viel von dem Dorf ganz in Ruhe erleben, denn das Wetter verhindert nicht nur unseren Weiterweg für ein paar Tage, sondern hält auch die sonst täglich einfallenden Tagestouristen fern.
Im höchsten Dorf Europas
Es sind urgemütliche Tage in Ushguli: in der warmen Stube der Familie, bei der wir wohnen, knistert der Kamin, während es draußen heftig regnet und ich nutze die Zeit, um zu schreiben und zu lesen. Als das Getrommel auf dem Dach einmal leiser wird, machen wir einen Spaziergang durch das nun umso mystischer wirkende Dorf. Seine markanten Wehr- und Wohntürme aus dem 10. Jahrhundert gehören seit 1996 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Liegengebliebene und zugewachsene Landmaschinen fügen sich ebenso ins Bild, wie eine riesige alte Glocke und die dazwischen herumlaufenden Pferde, Kühe und Schweine. Im Hintergrund taucht zwischen Wolkenfetzen, durch das weite Tal des dort entspringenden Enguri-Flusses, immer wieder ein Stück des imposanten Shkhara-Massivs auf, das Ushguli seine unvergleichlich fotogene Lage verschafft.
„Großes Kino“ auf dem Bettlaken
Zurück im Gästehaus sind wir patschnass, die Regenpause hatte nicht lange gehalten, aber am Ofen trocknen die Sachen schnell und so machen wir uns am Abend noch einmal auf den Weg ins Dorf. Wir wollen ins Kino. Kaum hatte ich meinen Augen getraut, aber die rote Leuchtschrift an einem der alten Häuser kündigt tatsächlich an, dass hier ein „Cinema“ sei. Der einzige Film, der hier fünfmal am Tag gezeigt wird, heißt „Dede“ – die Regisseurin Mariam Khatchvani ist in Ushguli aufgewachsen und der Film, in dem sie die Geschichte ihrer Großmutter erzählt, wurde in Ushguli und vor allem mit den Menschen aus Ushguli gedreht. Dann wird der kleine Beamer eingeschaltet, das File auf dem Laptop geöffnet und als die ersten Bilder über das an die Wand gepinnte Bettlaken zu flimmern beginnen, weiß ich, dass wir hier, als einzige Gäste in diesem etwas feuchten Stall, großes Kino sehen werden. Was wir während der nächsten 90 Minuten erleben, würde diesen Artikel sprengen, und es geht schließlich hier um Berge und nicht um Filme. Aber so viel sei gesagt: Es ist einzigartig, swanische Geschichte auf so einfühlsame und originale, und dabei cineastisch und dramaturgisch fantastische Weise zu erfahren und nicht zu wissen, ob die Hunde draußen im verregneten Dorf oder im Soundtrack des Films bellen. Es ist unbezahlbar, danach von der Mutter der Regisseurin noch ganz persönlich und spontan ergänzende Details erzählt zu bekommen. Falls das nicht deutlich wurde: Ich kann diesen Film empfehlen! Und diese Meinung teilte wohl unter anderen auch das Publikum der Filmfestspiele in Cannes, wo der Film ausgezeichnet wurde.
Am nächsten Morgen sehen wir endlich blauen Himmel. Und tatsächlich zeigt sich nun das Shkhara-Massiv in seiner ganzen imposanten Schönheit. Aber das ist nicht genug: Es hat geschneit und die steilen Rinnen tragen ein strahlend weißes Kleid. Der erste Schnee des Jahres lässt auch viele der Bewohner staunend innehalten und geradezu ehrfürchtig in Richtung des riesigen Gebirges verharren. Der 5.201 Meter hohe Gipfel des Shakhara ist der höchste Georgiens und der dritthöchste des gesamten Kaukasus. Seine Gletscherzungen reichen noch weit ins Tal hinab, auch in Richtung Ushguli. Und genau dorthin wandern wir heute. Es geht entlang des Enguri-Flusses, der die farblich zwischen knallorange und grünlich-blau changierenden Steine umspült. Das Ufer ist streckenweise noch dicht bewachsen und man taucht fast in eine Art Urwald ein, bevor man am oberen Ende schließlich durch eine Geröllwüste zu dem imposanten Maul des Shkhara-Gletschers gelangt. Ein paar große Findlinge laden zum Kraxeln ein und auch der Blick zurück ins Tal lässt den Atem ganz tief werden. Die sogar hier oben noch saftig grünen, steilen Wiesenhänge sind vielerorts noch mit bunten Blumenflecken gesprenkelt und doch ahnt man in den Blättern der Laubbäume schon den Herbst.
Grüne Wiesen, erster Schnee
Just in dem Moment, als wir uns auf den Rückweg machen, hören wir es donnern und sehen weit oberhalb eine riesige Lawine aus Neuschnee und Geröll durch eine der großen Rinnen rollen. Es ist eine spektakuläre Schau der Energien, die hier am Werk sind und in mir stellt sich wieder dieses wunderbare Gefühl der Unbedeutsamkeit ein, das nur in den Bergen so positiv sein kann.
Ich freue mich darauf, euch im nächsten Beitrag von unserem Weg zwischen Ushguli und Mestia zu erzählen. Und ich lade euch herzlich ein, unmittelbare Eindrücke auch über meinen Instagram Kanal zu erhalten. Dort habe ich kürzlich auch eine kleine IGTV-Serie veröffentlicht, in der ich ehrlich davon erzähle, wie es mir hier unterwegs mit meiner Schwangerschaft geht. Ihr könnt mich auch anhand meines Videotagebuchs auf YouTube begleiten, außerdem berichte ich auf Facebook. Und im Herbst 2022 gibt es dann auch wieder ein Buch.
Weitere Infos: www.anasways.com
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